Vom Kriechen und Wandern
»Lassen Sie ihn in Ruhe«, ruft die alte Frau, deren Gesicht aussieht wie 50 Jahre Bier und Glimmstengel, doch ihre Stimme verhallt in den Tiefen der Ubahn-Station. Niemand mag sie hören; ihr Fluchen allein hebt die Augen der Besucher, ihre Gedanken folgen dem Draht in das Licht der Neonröhren. »Ruhe«, summt zwischen den Stahlpfeilern umher, die das Dach über dem Donnern der Bahnen zusammenhalten, sich entzerren, bleiben, verstummen.
Sie meint mich und den alten Mann, der vor mir umherwankt, als wäre er ein Opfer eben jener Krankheit, die die Frau betroffen gemacht hat. Ich sage nichts über die Kleidung des Mannes noch über die grauen Haare, die seinen Rücken hinuntergewachsen sind, nichts über seine rote Mütze, die ihn zu einem Weihnachtsmann hat verkommen lassen, nichts über seine Hände, an denen Handschuhe liegen, darauf warten, herunterzufallen.
Worüber ich rede, ist seine Bewegung, sein Drang, davonzueilen. Wären es seine Beine, die sich wie Krücken verhalten, bei jedem Schritt erstarren, als wäre er ein lebendiger Schneemann, dann könnte man sagen: Arzt – Operieren Sie!
Doch das ist es auch nicht. Es ist sein Schleichen, das mich aufregt. Er schleicht, doch nicht Müdigkeit hält ihn gefangen, nein, es ist einfache Boshaftigkeit, die ihn umgibt, die ihn einhüllt wie die Hitze, die seinen Geist zum Lodern bringt – und mein Herz zum Rasen.
Leute sollen schnell wandern. Sie sollen von Punkt A zu Punkt B gehen und dort was machen und dann zu Punkt B2 oder C gehen – nicht einfach nur »promenieren«. Ja, Touristen machen das gerne, aber hier? Hier unten in den Löchern, die Berlins U-Bahn durchrasen, die vor hundert Jahren durch das Erdreich gebissen worden? Was hat jemand davon, zu kriechen? Selbst Kriechen Wäre schneller als das!
»Ruhe«, flüstert ein Mann neben mir, die Frau vor mir, das Kind, das mit seinen Eltern am Bahnsteig steht und wartet. »Lass ihn in Ruhe«, flüstert die Luft um mich herum, die Laternen an den Streben, die Wände mit ihren Postern. Selbst die Poster nicken mir zu, Gesichter und Bilder, Steine und Buchstaben, sie alle murmeln das Lied, sein Lied, das einzige, das keine Melodie hat, »Ruhe, lass ihn in Ruhe.«
Doch ich kann nicht. Ich muss ihm folgen. Ich könnte, könnte ihn umkreisen, wie es alle anderen tun, doch es geht nicht. Er ist ein Anker, eine Harpune im Fleische des Weißen Wals, er ist Ahab und Noah, er ist Santa Claus und der Krampus …
Ich folge ihm, ein Dutzend Schritte entfernt. Der Tag ist vergangen. Seine Schritte haben ihn durch die Gänge geführt, durch die Höfe Berlins, durch Türen, die für ihn geöffnet wurden, durch Straßen, deren Autos hupend an uns vorbeigezogen sind, durch die Mengen der Leute, die sich auf Märkten versammelten und starrten. Er geht und ich folge. Die Türen schlagen zu, das Licht versinkt, die Nacht hält Einzug. Er wandert dahin.
Sie kommen. Die Männer, die sich um ihn kümmern, doch nicht, wie es gewünscht ist. Sie tragen Stangen und Messer. Sie rufen, kreischen seinen Namen in die Welt hinaus, die ihre Ohren versperrt. Das Hämmern ihrer Waffen auf dem Asphalt, der seinen Namen singt, wird zum Rhythmus einer Panik. Sie greifen an. Ich bin nichts, bin unsichtbar für ihre Augen, die blutrot in ihren Gesichtern sitzen. Sie schlagen. Er wandert. Sie stechen. Er wandert. Die Nacht gewinnt. Er weicht nicht zurück. Sie toben. Er wandert. Sie fluchen. Er wandert. Sie beten. Er wandert. Sie flehen, weinen, vergehen. Er wandert.
Flammen schlagen aus den Ärmeln seines Mantels, versengen den Stoff, der ihm umhüllt. Rauch hüllt ihn ein, blutrot wird das Haar, das ihn verhüllt. Der Boden selbst wird zur Grube aus Teer, doch stetig bleibt sein Wandern. Feuer zittert an seiner Silhouette, er ist ein Spielball jenes Lichts, das ihn verletzt – nein, vernichtet. Er bleibt nicht stehen. Er bleibt nicht stehen, auch wenn ich es nun bin, der ihm nicht nur folgt, der ihn nun einholt, versucht, die Flammen zu löschen. Doch seine Augen treffen meine und nun versteh ich und lass ihn gehen, lass ihn wandern und mit einem Schlag ist er verschwunden. Das Kreischen wird zu einem Jubeln und als ich meinen Blick hebe, seh ich nicht nur das Flackern der Erinnerung, nein, mehr als das: Der Vogel ist es, die Flamme des Lebens in sich tragend, der Phönix ist erwacht.
Ich wandere. Ich wandere entlang der Straßen, die die Menschheit geschaffen hat. Das Feuer braucht das Leben, das sich ihm selbst aussetzt und ich war klug genug, dies nicht selbst ertragen zu müssen. Und dennoch bleibt mir nur eines zu tun: Den Weg zu nehmen, der mit hinterlassen wurde, zu wandern, bis ich einst auch stehenbleiben mag, bis das Feuer auch meinen Körper zerstört – und meine Seele befreit.