Rattenmelodie

Rattenmelodie

Der Donner war verklungen. Die Lichter flackerten, hinterließen Echos in den Augen der Leute, deren Münder wie schwarze Löcher vor dem grauen Flimmern des Abgrunds wirkten.  
“Was war das?”, fragte eine Frau. 

“Was schon… weiß ich doch nicht”, brummte eine andere, die gerade versuchte, auf ihrem Smartphone eine Meldung abzuschicken – erfolglos. 

“Meine Damen und Herren. Verzeihen Sie bitte die Umstände, aber die Bahn kann nicht weiterfahren … nicht für diesen Augenblick, nicht für längere Zeit. Bitte bleiben Sie ruhig. Ich melde mich in Kürze wieder …” <Klick> 

Stille legte sich auf uns, eine Decke aus Betroffenheit und Panik, Atemzüge voller wilder Panik. Herzen pochten schmerzhaft hinter sich schrill hebenden Brustkörben.  

“Ich kann das nicht”, murmelte der Mann mir gegenüber. Seine Krawatte hing locker genug, um als Galgenstrick durchzugehen, seine Kleidung war – im Halbdunkel des Stromausfalls – teuer gewesen, hing aber an ihm wie ein Sack in einem Fluss ohne Wasser. Seine Augen starrten aus dem Fenster hinter mir, doch er konnte auch nur seinen Schatten erkennen – und mich. 

“Ich muss zum Konzert, verstehen Sie?” Seine Stimme wirkte fern, fast ätherisch, als ob er von der Realität nur einen Hauch entfernt war – oder ich.  

“Ich weiß nicht, was ich sagen soll”, antwortete ich. Der Gedanke, jetzt eine Zigarette zu rauchen, flüsterte lautstark in meinem Kopf, dabei rauchte ich gar nicht. “Kenne ich Sie?” 

“Mich kennen?”, fragt er. Seine filigranen Finger zerrten Muster in seinen Bart. “Mich kennen? Sicher … vielleicht. Ich bin Anton Morowitz.” 

“Der Komponist?”, fragte die Frau neben mir, die nun hinter ihrem Smartphone auftauchte, als hätte sie den Meister der Welt getroffen  
“Sicher, ja”, antwortete er. Er wollte augenscheinlich nicht mit ihr reden, auch nicht mit mir, so dachte ich jedenfalls. 

“Wissen Sie, heute abend wird meine Oper aufgeführt… meine … Oper.” Schweißperlen aus grauem Staub rollten über seine Stirn.  

“Wissen Sie … ich …” Er stockte, hob seine Finger, als würde er einen fremden Schädel halten. “Ich bin Komponist und Musiker, aber ich war immer schon so. Meine Mutter sagt immer, dass ich ein Ohr habe für Musik und Töne, von Menschen und von … Tieren.  

Ich erinnere mich. Ich war klein, ganz klein, vielleicht ein Jahr alt und ich lag in einer Krippe und ich träumte von Stimmen und Musik. Und da war ein Schatten. Ich habe dann meine Augen geöffnet und eine Ratte gesehen. Eine echte große Ratte mit ihren langen Zähnen und ihren Augen, ihren bösen bösen Augen und sie hat gequiekt und ich hatte gedacht, das … 

Und da hörte ich meine Mutter schreien und die Ratte ist weggerannt und ich habe furchtbare Angst gehabt und immer, wenn ich eine Ratte oder eine Maus gesehen habe, habe ich …” Er wischte sich mit einem bestickten Taschentuch die Stirn ab und lehnte sich zu mir herüber. Verdammt, ich brauchte eine Zigarette.  

“Dann hatte ich immer Alpträume und in denen hörte ich eine Melodie und dann habe ich immer richtig hingehört und das waren dann … Mäuse und Ratten. Ja. Ich habe viele Jahre lang schlecht geschlafen, bis man mir gesagt hat, dass ich das nutzen kann. Ich bin vor 10 Jahren zur Uni und habe studiert und gelernt und Musik gemacht und bin …”, er richtete sich die Krawatte, die noch immer genauso herumhing wie vorher, “bekannt geworden, wohlhabend sogar. Doch nie habe ich die Melodie vergessen, die ich im Traum gehört hatte. Und jetzt, vor zwei Monaten, habe ich die Oper beendet, die Oper über Mäuse, und ich nutze die Melodie und tatsächlich, seit dieser Zeit habe ich keine Alpträume mehr!” 

Er grinste mich an. Ich nickte zurück. “Das ist toll.” 

“Toll? Toll? Famos! Fantastisch! Doch ich fühle, dass Leute es hören müssen. Dann werde ich endlich frei sein!” 

Wieder donnerte es, doch diesmal fühlte es sich näher an; der Waggon schepperte. Iim Hintergrund weinte ein Kind. Dem Rest der Leute war eh alles egal. 

“Hier ist Ihr Fahrer. In wenigen Augenblicken öffnen Sie bitte die Tür. Ich werde Sie dann zum nächsten Ausgang führen. Leider hat eine Gasexplosion mehrere Bahnhöfe außer Betrieb gesetzt.” Mit “Keine Sorge, wir bekommen das hin”, beendete der Zugführer seine Ansage höchst positiv. 

Eine Klinge aus Taschenlampenlicht halbierte die Finsternis. Auf Befehl öffnete jemand die Tür. Endlich frei. Doch Morowitz hielt inne, packte mich bei der Schulter. “Ich kann nicht!” 

“Natürlich können Sie!”, knirschte ich. 

“Da draußen sind Ratten!”, keuchte er. 

“Ja. Mäuse und Ratten und Spinnen und Eidechsen und Atombomben. Also los …” 

Er zitterte … vermutlich weinte er auch. Das war mir aber leidlich egal, denn auch ich hatte Dinge zu tun. “Kommen Sie schon. Ihre Oper!” 

Das ließ ihn aufmerken. Das machte ein Lächeln aus seinem verkrampften Gesicht. “Okay.” 

Wir halfen noch ein paar älteren Herrschaften in das Gleisbett und folgten den Anweisungen des Zugführers.  

“Hier abbiegen, dann …” Eine Explosion folgte, viel näher als alle anderen. Leitungen schwankten, Rohre quietschten, zerborsten.  Eine Frau schrie. Ein Mann quiekte. Zwischen unseren Füßen bewegte sich ein Teppich aus … Wesen. Mäusen. Ratten. Sie … 

“Mein Gott”, brüllte Morowitz und taumelte nach hinten, rutschte auf den glitschigen Leibern der panischen Wesen aus und …  

starrte auf seinen Bauch, aus dem ein Rohr ragte, aus dem Dampf schoß, als wäre der Mann selbst eine Maschine aus Blut und Wasser und … Melodie. Die Ratten erstarrten in ihren Bewegungen, hoben ihre winzigen Köpfe, ihre langen Zähne zum Himmel, zum Gesicht eines Mannes, dessen Angst, dessen Terror sich in etwas verwandelte wie göttliche Akzeptanz, wie der Wahnsinn der Musen, wie den Respekt vor dem Schicksal. Und aus dem Rauschen des Dampfes, dem Kochen seines Leibes, dem Klirren seiner Knochen entstand eine verquere Kakophonie aus Schmerz und Leiden und Wahnsinn, ein Reigen des Todes. 

“Das ist … meine …Oper”, murmelte er, während er seine Tasche fallen liess, die sich beim Aufprall öffnete und dutzende dichtbedruckte Notenblätter freigab. “Meine Oper”, flüsterte er und hob seine Augen zu den meinen. “Meine Oper…” 

Doch nie werde ich die Augen der Tiere vergessen, die ihn von unten anschauten, in einer Art religiöser Intelligenz, als wäre er ihr Meister, nein, als wäre er ihr Gott und als hätte sein Leiden eine echte Bedeutung, die sie als Ratten nie verstehen würden, während doch alles nur Chaos war, ein Chaos, das Morowitz vermutlich vor Jahrzehnten eingeflüstert worden war, damals als Kind in der Wiege und die Frage, ob es ein Schicksal gibt oder nur unerfüllte Prophezeiungen … kann ich noch immer nicht beantworten. Denn ich lebe noch immer und ich habe nie von Ratten geträumt … nur von anderen Dingen, die kaum unrealer sind als die Noten, die auf den Blättern, die ich aufhob, den Namen “Die Rattenmelodie” trugen. 

Und das ist nicht das Schlimmste an der ganzen Geschichte. Nenn niemand hat jemals von ihm wieder gehört, nein … das stimmt nicht. Morowitz verschwand und auch nach Wochen der Suche fand man ihn nicht; selbst als man mich und die anderen, die den Waggon mit ihm geteilt hatten, an die Stelle führte, an der wir seinen kochenden Leib gesehen hatten, umgeben von diesem kochenden Meer aus Ratten: Nichts erinnere mehr an diesen Tag, nur das Rohr, das seinen Körper durchbohrt und einer Orgel gleich die Melodie seines Todes in die Finsternis geworfen hatte, hing am selben Platz, leer und glatt … als wäre es von den Tieren abgenagt … und abgeleckt worden, auf dass jede Ratte selbst einen Teil des Mannes in sich trug, der ihnen eine Hymne geschrieben und damit die Ewigkeit versprochen hatte.

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