Neujahr

Neujahr

Salamipizza am Abend und eine Kiste Cola im zu großen Kühlschrank, so stellt sich Matt die Vorbereitung eines gelungenen Abends vor. Im Moment allerdings sitzt er auf dem Klo und liest eine Fachzeitschrift für Fliegenfischen. Was Matt nicht weiss: die Frage des korrekten Köders ist in den nächsten Stunden nicht wirklich wichtig. Die Klospülung geht und unser Held bewegt sich mit pandahafter Ästhetik in die Küche und beginnt zu zittern. Es ist ihm zu kalt. Er schaut auf das Fenster: angekippt. Er flucht beim Blick auf das Thermometer und versucht zu sich zu erinnern, wieso jemand das Fenster öffnet, bei diesen furchtbaren Temperaturen. Er schaut hinaus, sieht nur Dunkelheit. Dann blitzen Lichter vor ihm auf, rote, grüne, blaue, während er zurückweicht und leise flucht. Es donnert und er versucht, sich zu erinnern, was denn einen solchen Krawall ausmachen könnte. Er schüttet die Verwirrung ab und bewegt sich wieder in sein Arbeitszimmer. Auch hier herrscht besinnliche Finsterniss. Der Monitor leuchtet nach einem Knopfdruck auf. Matt reibt sich die Augen. Es fehlen noch einige überlebenswichtige Daten für sein Projekt. Allerdings weiss er nicht mehr wirklich, welches Projekt gerade bearbeitet wird. Sein Emailprogramm blinkt. „Guten Rutsch ins neue Jahr 2011“ Unruhe befällt Matt. Er klickt weiter. Die Meldungen über einen bevorstehenden Jahreswechsel addieren sich. Matt flucht. Er stellt sich an das Fenster und beobachtet voller Verachtung, wie um diese Stunde dutzende Menschen vorbeilaufen; hört den Lärm der Böller und hunderte Füsse im chaotischen Gleichklang 5 Stockwerke unter ihm. Er wischt den Staub von seiner langfristig angelegten Flasche Billigbourbon, nimmt einen Schluck. „Silvester.“ sagt er. „Ich hasse Silvester.“

Er zieht die Gardinen zu und setzt sich wieder an den Rechner. Der Krach draußen wird  lauter. Er hält sich die Ohren zu. Sein Kopf beginnt zu brummen, er nimmt noch einen Schluck. Dann noch einen. Bald ist die Flasche leer. Der Geschmack verbrannten Schwarzpulvers legt sich nach und nach auf seine Zunge. Sirenen heulen auf und verstummen kurz darauf. „Silvester“ murmelt Matt. Er hielt es nicht mehr aus, hier, inmitten des Trubels, inmitten der Feierlichkeiten eines Jahreswechsels, an den er nicht glaubt, der ihm Angst machte. Gefühlte Stunden stampft er auf den Boden, ignoriert von den unter ihm feiernden Menschen. Lautstarke Musik spielt aus unsichtbaren Boxen: die größten, belanglosesten Hits des sterbenden Jahres. Er setzt die Kopfhörer auf und schaltet durch die Radiosender. Nur Tanzmusik für Proleten. Er klickt durch seine Musik-Sammlung: Langweilig, dumpf, zu leise, zu laut, zu sanft, zu aggressiv.

Nichts hilft, das Gefühl kompletter Ratlosigkeit aufzuhalten. Ratlosigkeit gefolgt von aufwallender Panik. Ligyrophobie? Matt schüttelt den Kopf. Vermutlich Angst vor einer Unzahl von Menschen. Oder die bevorstehende Apokalypse? Er hatte heute beim Einkaufen an die hundert Menschen auf engstem Raum gesehen, sie wie üblich ignoriert. Was war, wenn sie nichts mehr zu essen haben würden? Was war, wenn irgendeine Software, wie schon vor Jahren vermutet, austickten und die Welt in Höllenfeuer setzen würde? Er zittert. Die Flasche fällt zu Boden und rollt in eine Ecke des abschüssigen Zimmers. Er hat schon seit Tagen das Fernsehgerät nicht eingeschaltet. Zuviel Stress. Zuviele Menschen, die zuviel von ihm wollen und dann noch das Fernsehen mit seiner lapidaren Mitteilung, dass das sogenannte Abendland dem Tode nah ist: er verzichtete zu gern darauf. Rote Lichter flackeren in der Ferne. Er erhebt sich taumelnd. Er wühlte sich durch eine Anzahl von Kabeln, findet den gerne vermissten Anrufbeantworter. Die Zahl „1“ leuchtet sporadisch auf. „Kommst du zur Party? Wir feiern hier ne Fete, du weisst schon: Alien-Weltuntergangsparty 2010. Bring Alkohol mit. Grüße, Fremdling“ schreit die Stimme hinter einer dicken Wand aus Gesängen, klirrenden Gläsern und allgemeinem Smalltalk in den Telefonhörer. Matt erkennt die Stimme nicht, aber er hat grundsätzlich ein schlechtes Stimmgedächtnis. Die letzten Tage hatte er in seiner Wohnung verbracht und schon fast alle Stimmen seiner Kollegen vergessen. In einer solchen Nacht ist er schon immer gerne allein. Allerdings nur, wenn sie ruhig sind und er genug Alkohol hat, um sich von dieser Festivität abzulenken.

Er hört Schreie und hofft, dass dieser Lärm bald vorbeigehen würde. Zähe Gedanken ohne Sinn, ohne Worte schaffen Bilder von

„HAPPY NEW YEAR!!!!!“

flüstert eine Stimme, verwischt die Realität. Die Welt um ihn herum flackert und erlischt. Es riecht modrig, ihm wird kalt. Eine Hand an seiner Wange. „Fröhliches neues Jahr 2012“. Er erkennt diese Stimme und öffnet die Augen. Schaut in Gesichter, zornig verzerrt. Sein Blick schweift über die ausgemergelte Gruppe. Verwirrt sinkt er zurück. Und erinnert sich, wo er ist. Silvester 2010. Sie kamen genau in dieser Nacht und überrollten die Welt. Kein Computerfehler hatte die Menschheit erwischt, nur eine beispiellose Vernichtungswelle. Die Apokalypse. Sie kamen aus dem Himmel und die Erde erbebte unter ihrem Ansturm und

ihre Triebwerke Raketen gleich, in tausend glitzernden Farben.

Matt schüttelt den Kopf und erhebt sich. Eine Tasse lauwarmen Tee in der Hand schaut er durch das zerbrochene Fenster. Noch immer zucken farbige Blitze über den Horizont. Da draußen sind noch genug Menschen, um die Hoffnung auf einen erfolgreichen Gegenangriff am Leben zu erhalten. „Ich hasse Neujahr“, sagt Matt leise und greift nach seinem Gewehr. „Außerdem hätte ich heute Geburtstag.“

© Emanuel Mayer 01.01.2011

Ein Gedanke zu „Neujahr

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