Hayes – Der Pfad der Toten – Kapitel 6.2 – Finale

Hayes – Der Pfad der Toten – Kapitel 6.2 – Finale

Der Gang war hoch und leer. Einzelne Gäste wanderten durch die Ferne. Türen öffneten und schlossen sich. Die Musik war nur noch ein Rauschen.
Hayes Onkel, oder besser Anneas Onkel, zerrte an ihr. Seine Hand presste sich an ihr Handgelenk. Sein Atem ging heftig.
»Das sieht nicht wie die Küche aus«, meinte sie, als sie endlich anhielten.
Der Raum wirkte dunkel. Es klickte. Gelbes Licht löschte alle Schatten aus, erschuf neue.
Und hier schien alles zu verschwimmen, als wäre es schon einmal dagewesen und ausgelöscht worden, durch ein Schwert des Schicksals oder eine Laune des Gottes des Lichts, so er hier existierte. Der Mann mit der Glatze, der ihr Onkel sein sollte, war bereits vor einer gefühlten Woche, also mehreren Tagen um den Tisch herumgewandert und hatte sie im Licht seiner grüngefärbten Lampe angeschaut, das gleißende Licht auf seinen gläsernen Augen, runden Fenstern, die seine Pupillen kleiner erschienen ließen. Er hatte so etwas gesagt wie »Du bist also hier, ohne Antwort, ohne Ergebnis.« Und sie hatte gesagt, dass sie nichts wüsste, aber dann reagierte sie passend und zuckte mit den Schultern und auch wie vor mehreren Tagen hatte er seinen Bart gestreichelt und gelächelt und ihr gesagt, dass er wüsste, dass sie die Lösung für das Problem hatte. Und dann war sie auch nicht überrascht, dass er abgelehnt hatte, ihr etwas Branntwein aus dem Schrank zu reichen, denn sie hatte es eh abgelehnt. Und dann war er zur gegenüberliegenden Wand gewandert, hatte im Schatten einen Hebel umgelegt und die Wand hatte sich geöffnet. Es war alles eine Wiederholung, die Zeit war anders, wie so vieles hier. Und sie waren gemeinsam in den winzigen Raum getreten, wo metallene Streben aus dem ebenso metallenen Boden gekrochen waren und sich einige Ellen über ihren Köpfen vereinigt hatten. Dann hatte der Boden gebebt, genauso wie es in ihrer Erinnerung war. Die Wand war aufgesprungen und hatte ihr das Dach und die Nacht präsentiert, einen Himmel voller Sterne, die aber von dem grünen Licht ausgelöscht worden waren, das aus dem Kristall gedrungen war, einem menschenhohen Kristall, der grün geleuchtet hatte und an dessen Wänden schwarzglänzende eiserne Gitter ähnlich Buschwerk emporgewachsen waren, Dornen und Spitzen. Und die Stimme.
»Annea.« Seine Stimme schien aus allen Richtungen zu kommen, traf sie aus dem Schatten. Ein Mann trat ins Licht, nur seine Konturen waren zu sehen. Er wirkte größer als alle anderen, die um ihn herum beschäftigt waren, die an bizarren Tischen standen, an Pulten, auf denen fremdartige Lichter blinkten, die auch von Magie besessen schienen, nur kontrollierter.
»Eure Majestät«, teilte der Mann mit, der sich als ihr Onkel ausgab.
»Sie ist hier. Gut. Das heißt, sie muss eine Antwort haben. 10 Jahre in Ur. In den Tiefen der Heiligen Bibliotheken. In den Schatten der Namenlosen. Annea, meine Tochter.«
Er trat näher an sie heran. Sie bemerkte sofort, dass sie ihn kannte, mehr noch, dass sie alles andere nicht mehr kannte. Es fühlte sich an, als ob eine Last von ihren Schultern gerissen worden wäre, als ob die Schwere, die aus ihren Erinnerungen gewachsen war, sich ins Nichts verflüchtigte. All das, was ihre Existenz ausgemacht hatte, die Taten und Worte, die Kämpfe mit unheiligen Mächten und Kreaturen, mit Dienern von Götzen, mit Sklaven von Kulten, all das war irrelevant jetzt.
»Annea«, kicherte eine Stimme und eine Puppe rannte durch die Gegend, direkt auf sie zu, umarmte ihre Oberschenkel, hob ihren Blick. »Du bist ja alt geworden!«
»Alina!«, zischte jemand und eine großgewachsene Frau stampfte aus der Nacht heran. Sie beäugte Hayes oder Alina oder wer es auch immer war, mit großen Augen. Ihr Gesicht schien eine Maske zu sein, nur ferne Empfindungen schafften es, dass ihre Muskeln lebten.
Hayes reagierte nicht. In ihrem Inneren zerrissen Bilder und bauten sich neu auf. Dann kam sie auf das Wort. »Mutter.«
Die Frau nickte, hob dabei ihre Augen, als ob sie sich verneigte. »Du wolltest nicht hier sein.«
»Doch. Sie ist hier, weil es Zeit ist, nicht wahr? Die Macht der Kristalle ist nicht mehr zu bändigen. Die ganze Welt steht unter einem schlechten Stern. Der schwarze Mond nähert sich, als wäre er von einem Magneten angezogen worden.«
Hayes kannte das Wort nicht, aber sie glaubte, es schon gehört zu haben, aber in einer Zeit, die noch nicht existierte.
»Es ist unaufhaltsam«, sagte die Frau und blickte den König an. Sie trug einfache Kleidung, aber schien Kontrolle über den Mann zu haben.
»Wir … können es verzögern«, meinte er.
»Zu welchem Preis?«
»Zu jedem Preis«, meinte er, kraft seiner königlichen Autorität.
»Annea«, teilte die Frau mit. »Was hat Ur gesagt? Haben sie geholfen? Oder …?« Weiter kam sie nicht. Tränen schossen aus ihren Augen und sie umarmte Hayes mit der Kraft einer Frau, die nur eine Mutter sein kann. »Du siehst so alt aus«, flüsterte sie unter Tränen in die Ohren ihrer Tochter. »Bist du es wirklich? Du musst es sein.«
»Ich bin es«, murmelte Hayes, auch wenn sie nicht wusste, was sie sagte. Die Quelle ihrer Existenz war hier, war immer hier gewesen, aber war verschwunden, warum auch immer.
»Die Zeit hat dich hergeführt, mein Kind«, teilte der Mann mit, der ihr Onkel war, der sie nach oben, auf das Dach des Palastes geführt hatte. »Die Zeit wird uns retten.«
»Retten«, echote das junge Mädchen.
»Bring Alina fort. Die Magie, die hier existiert, wird vielleicht alles vernichten. Oder auch nicht. Oder verzögern …«
Eine Dienerin erschien aus der Finsternis, verneigte sich, hob das protestierende Mädchen auf und wanderte davon. Riesige Augen starrten Hayes an, dann verschwanden sie.
»Ich habe kein Wort, keine Lösung«, meinte Hayes.
»Du hast die Lösung. Ich weiß es«, meinte die Frau. Sie trat einen Schritt zurück, schaute ihre Tochter von oben bis unten an. »Du hast vieles erlebt und wirst noch mehr erleben. Diese Zeit ist nicht deine. Ich weiß nicht, was in Ur passiert ist, aber … ich weiß, dass du uns rettest.«
»Für eine gewisse Zeit.«
»Ja, Eure Majestät. Für eine Zeit werden wir Frieden haben, aber dann wird alles zusammenbrechen. Ich wünsche mir, dass wir es noch erleben, aber vielleicht auch nicht. Annea oder wie auch immer du dich nennen magst, komm …«
Sie nahm ihre Tochter bei der Hand. Ihre Finger wirkten sanft und fordernd zur selben Zeit. Hayes ließ sich führen. Ihre Füße berührten den Boden kaum, so fern fühlte sie sich.
Der Kristall zuckte, als er ihre Nähe erkannte. Sie fühlte, dass sie ihn kannte, dass sie ihn kennen würde, zumindest Teile davon, Teile, die nicht an das Hier und Heute gebunden waren. Sie sah Bilder seiner Existenz, seines verzweifelten Kampfes um ein eigenes Bewusstsein, aber sie wusste, dass ihr Vater recht hatte. Der schwarze Mond, der über der Welt schwebte, war noch nie so nah gewesen. Niemand wusste, wo er herkam, aber Geschichten zufolge hatte es etwas mit dem Fuzan zu tun, dem Fuzan, der irgendwann in der Zukunft erscheinen würde, oder doch nicht?
»Die Titanen«, flüsterte sie.
»Es gibt sie noch nicht«, antwortete ihre Mutter. »Aber es wird sie geben, zu einer Zeit, wenn sie notwendig sind. Ich weiß es. Ich war dort. Ich werde dort sein.« Sie lächelte. »Meine Seele gehört nicht mir.« Sie ließ Hayes los.
Hayes trat vor den Kristall. Sie streckte ihre Hände aus. Ihre Finger berührten die Oberfläche dieser leuchtenden Macht. Nichts geschah. Sie fühlte erst jetzt das Vibrieren ihres Dolches, den sie in die Hand nahm und aus der Scheide zog. Zeichen tanzten auf der Oberfläche des Metalls. Sie hob die Waffe, fühlte Wehmut aufsteigen. Sie stach zu. Einmal, zweimal. Winzige Risse bildeten sich auf der unwirklichen Oberfläche der kristallenen Kreatur. Ein weiterer Schlag folgte. Zu einem vierten kam es nicht. Der Dolch war steckengeblieben. Winzige Arme krochen aus dem Inneren des Kristalls nach außen, hüllten die Klinge innerhalb von Augenblicken fast ein, als würden sie ihn fressen wollen. Sie konnte das Metall kreischen hören.
»Verlieren Sie den Focus, Hayes. Lassen Sie los. Schauen Sie nicht auf das Symbol, schauen Sie hinter das Symbol, stellen Sie sich vor, sie würden es zeichnen. Suchen Sie die Intentionen der Bewegungen – und dann gehen Sie rückwärts vom Symbol zum Wunsch.«
Altbekannte Worte drängten sich in ihren Kopf. Erinnerungen an eine Nacht unter einem verfluchten Weinberg tauchten auf. Das Symbol, das alte, neue Symbol, bei allen verlorenen Göttern.
Sie hörte sich selbst lächeln. Ihre Eindrücke wurden klar, die Bilder in ihrem Kopf vereinigten sich zu einem Meisterwerk. Ihre Finger tanzten.
Der Kristall kreischte, weinte, flehte, fluchte, verfluchte sie.
Dann zerbarst er, aber nur für wenige Zoll. Die Zeit blieb stehen. Die Bruchteile des unheimlichen Wesens hingen in der Luft wie Fische in Eis. Dann wich alles zurück, vereinigte sich wieder, schrumpfte an den Kanten zusammen. Ein dumpfes Lachen kroch aus der Ferne heran. Hayes hob ihren Blick. Der Mond, der so fern schien, war mit einem Mal so nah, dass er den Himmel ausfüllte. Sie konnte die bösartige Energie der gewaltigen Macht spüren. Sie füllte alles in ihrem Inneren aus. Sie konnte die Gezeiten erkennen, die über den Himmel wanderten, konnte die Ewigkeit erkennen, die sich über ihren Köpfen versammelte, über den Köpfen der ganzen Welt. Ein Teil des Mondes zerbarst vor ihren Augen, der Rest wurde weggetrieben, wie ein Fisch an einer Angel. Wohin die Teile flogen, konnte Hayes nicht erkennen, aber sie wusste, dass Kinsul sie überleben würde, wie sie alles überleben würde. Sie blickte sich um. Die Welt schob sich von ihr weg und auch die Gesichter der Menschen, die sie gekannt haben musste, verblassten unter dem Ansturm der Zeit. Sie hatte die gewaltige Kraft nur gebändigt, aber nicht besiegt. Dieses Land würde sterben, aber es würde sich opfern. Das war ihr nun klar. Die Landschaften, die sie durchschritten hatten, waren die Zukunft. Doch wo würde sie sein, wenn die Welt verging, wenn ihre Welt verging? Niemand würde es wissen. Nur sie, nur sie würde es wissen und sie würde es niemandem erzählen, nicht einmal dem Schicksal selbst.

Kommentare sind geschlossen.