Hayes – Der Pfad der Toten – Kapitel 6.1

Hayes – Der Pfad der Toten – Kapitel 6.1

Straßenlampen leuchteten gelb, der Himmel trug die Sehnsucht nach dem nächsten Tag. Wie lang Hayes und die alte Dame durch die Stadt gefahren waren, konnte Hayes nicht nachvollziehen. Die Straße war geschrumpft, die Menschen hatte sich an den Rändern versammelt und saßen herum, redeten wohl über die wichtigen und unwichtigen Dinge ihres Lebens. Magische Kerzen in gläsernen Hüllen zuckten, warfen Schatten auf Gesichter und gestikulierende Hände. Alles wirkte perfekt.
Die Kutsche wurde langsamer. In der Ferne wurde ein Tor geöffnet. Hayes konnte spüren, wie die Bewohner dieser Stadt ihren Atem anhielten. Ein eisiger Hauch kroch über die Straße. Die Pferde wieherten leise. Nur mit Mühe konnte der Kutscher sie dazu bewegen, seinem Befehl zu folgen. Dann kroch der Wagen weiter.
»Ihre Familie ist augenscheinlich nicht sehr beliebt«, meinte Hayes, während ihre Augen über die metallenen Tore schwebten. Schwarzes Metall schien am dunklen Hintergrund zu lecken. Hinter der Mauer hingen Sträucher auf dem Boden. Sie wirkten alt, fast schon vergessen, vibrierten leise.
Sie schaute sich um.
Sie war allein.
Nur der Wagen kroch über den Weg, als wäre er gefangen in einer Reihe von Befehlen, als würde er auf Eisenschienen fahren, ähnlich jenen, die Hayes in der Stadt gesehen hatte. Sie lehnte sich aus dem Fenster. Die Nacht hatte den Tag abgekühlt. Schatten schienen aus der Tiefe des Gartens zu kommen. Wind wehte vorsichtig, bewegte Laub. Fetzen von Wolken schlichen über den Himmel.
Hatte Hayes geschlafen? Etwas war hier mehr als nur eigenartig. Die Geschichte mit den Bienen kam ihr in den Sinn, die dahinflüchtenden Bauern und Kaufleute – und hier war alles normal – nun ja, fast normal.
Die Hufe der Pferde klackerten über Gestein. In der Ferne spielte eine einsame Geige ein altes Lied, ein Lied, das ihr bekannt vorkam, als wäre es Teil ihrer Vergangenheit, aber sie konnte sich nicht direkt daran erinnern, es jemals gehört zu haben.
Die Bäume ließen größere Lücken entstehen, hinter denen die Monde schienen, einer am Horizont, der andere fast direkt über dem Garten. Lichter und Töne kreuzten die unsichtbaren Pfade, durch die die Finsternis sickerte. Die Musik wurde mit jeder Minute lauter, bis die Hufschläge durch die Künstler völlständig verschluckt worden waren. Auch die Kutsche stoppte. Jemand brachte die Kutsche zum Schwanken. Ein schwarzer Handschuh krachte auf den Fensterrahmen. Ein Gesicht folgte.
Es war weiß, tot, ein Schädel, ein grinsender Schädel voller Augen, mehr als zwei, viel mehr als zwei. Und sie blinkten.
Hayes merkte, wie ihre Hand zu ihrem Dolch raste, den Griff spürte, doch die Klinge summte nicht, oder sie war so überwältigt, dass sie aufgegeben hatte.
»Hahahaha«, meinte die Gestalt, riss die Tür auf, stellte die Stiefel auf das Trittbrett und blickte ins Innere der Kutsche.
»Annea«, teilte sie mit. »Du bist hier? Ich dachte, du bist in Ur? Komm doch rein.«
Hayes Augen mussten riesig wirken, denn die Stimme verschluckte sich und versuchte es noch einmal: »Annea … alles in Ordnung?«
Hayes nickte vorsichtig. Ihre Nackenmuskeln brannten.
»Du bist älter geworden, ich dachte, du würdest immer 16 Jahre alt bleiben.«
»Hast deine alte Tante ewig nimmer gesehen, wie?«
Die Frau nahm die Maske ab. Das helle Gesicht glänzte im Licht der Fackeln, die den Eingang zum Tor zeigten, zumindest, seit Hayes ausgestiegen war. Und da stand sie nun, hilflos in ihrer eigenen Wirklichkeit gefangen, als wäre das Bild, das sie sah, soviel älter als sie.
»Umarme deine Tante, Kind«, meinte die Frau. Ihre Augen blitzten, doch es lag kein Zorn in ihnen, nur blaugrüne Flecken, die umhertanzten.
Hayes tat, wie ihr befohlen worden war und es fühlte sich vertrauter an als erwartet.
»Du bist noch immer nicht verheiratet, nicht wahr? Nun, deine Mutter wird sich fast für dich schämen, aber dein Vater ist dankbar. Komm schon«, meinte die Frau, packte Hayes Handgelenk und zerrte sie mit sich.
»Das Pferd«, meinte Hayes, drehte sich um, doch bereits jetzt konnte sie sehen, dass das Tier von einem Bediensteten in die Finsternis geführt wurde.
»Das Pferd gehört in die Stallungen, so wie meine Nichte eigentlich nach Ur gehört. Oder zur Feier. Das wird eine Überraschung sein«, kicherte die Dame.
Hayes ließ sich führen, ließ ihre Augen die Bilder aufnehmen, die sich in ihren Verstand brannten, ließ auch ihre Ohren die Gesänge, die Tänze, die Töne, das Gemurmel, das Gerede, die Schreie im Hintergrund aufnehmen. Kinder tobten zwischen Männern in Uniformen und Damen in weißen Kleidern, in riesigen Kleidern, die fast so rund waren wie die Frauen hoch. Die Uniformen der Männer waren grün und schwarz, lagen wie Holz an ihren Körpern, ohne Spiel, als hätte man sie auf ihre Leiber geklebt. Oftmals trugen sie Schwerter, leicht geschwungen, als wären sie schneller in der Mitte als an der Spitze, Schwerter, die Hayes auf ihren Reisen noch nie gesehen hatte, aber sollten die Krieger im Ostland diese nicht tragen, dem Land, der Ebene, die über Jahre reichen sollte?
»Annea, mein Schatz«, meinte ein Mann mit silbernem Bart. Er trug Gläser auf den Augen, so dass diese winzig erschienen. Sein Kopf war kahl, so dass sich das Licht der vielhundert Kerzen in ihnen spiegelte, Kerzen, die kaum Wärme ausstrahlten. Ja, es war kühl, fast schon kalt hier.
»Ja«, hörte sie sich selbst sagen.
»Sie ist verwirrt, müde«, meinte die unbekannte Tante.
»Und zweitausend Kilometer entfernt von ihrem eigentlichen Ort.« Der Mann zog seine Augenbraue hoch. Dann lachte er. »Na komm, mein Kind. Du siehst aus, als würde dich hier alles überwältigen.«
Er nahm ihre Hand und zog sie durch die Menge, die nur langsam reagierte, zu sehr in ihren eigenen Gesprächen vertieft war. Der Raum schien riesig zu sein. Die Helligkeit ließ die Decke über ihnen verschwinden, als wäre sie höher als der Himmel. Bedienstete mit metallenen Tafeln beladen mit winzigem Essen und filigranen Gläsern sprangen beiseite. Die Musik schwebte langsam davon, tauchte wieder auf. War dies ein Traum?

Kommentare sind geschlossen.