Hayes – Der Pfad der Toten – Kapitel 5

Hayes – Der Pfad der Toten – Kapitel 5

»Seid Ihr es?«, fragte die alte Frau, die auf den Stufen saß, die zur größten Statue hinaufführte. Sie schien alt zu sein, aber ihre Augen trugen den Glanz früherer Klugheit in sich, jene Form von Klugheit, die einem nie verloren geht. Hayes konnte fühlen, wie sie seziert wurde, auseinandergenommen, neu zusammengesetzt.
»Wie bitte?«, fragte sie.
Ihre Stimme wirkte anders in dieser Umgebung, sonderbar klein, während die Stimme der alten Dame, die ihren breiten Hut zurechtrückte, die Luft zerschnitt.
»Annea?«
»Ich kenne diesen Namen nicht. Sie verwechseln mich.«
Die alte Frau nickte und seufzte, dennoch blieben ihre Augen auf dem Gesicht der Abenteurerin kleben. »Es kam mir so vor. Ich werde alt. Ich sehe immer Bilder aus meiner Jugend.« Sie kicherte, aber gleichzeit konnte Hayes fühlen, dass die plötzliche Änderung der Stimmung der alten Frau nicht ganz richtig war.
»Wer ist das?«
»Wer?«
»Annea.«
»Annea, ach ja«, meinte die Dame. »Das war meine Enkelin oder meine Großmutter. Ich weiß es nicht mehr.« Sie starrte in die Ferne. Auf ihren Augen formten sich Tränen, einzelne diamantene Tropfen.
»Wer ist das hier?«, fragte Hayes.
»Wer?«
»Diese Statue …«
»Sie sind nicht von hier, nicht wahr?«, fragte die alte Frau.
»Ja, ich bin durch ein Tor gekommen …«
»Durch ein Tor. Ja. Sie sind wirklich nicht von hier«, lächelte die Dame. »Wir nennen sie anders. Glaube ich. Ich bin seit vielen Jahren nicht mehr so gereist. Aber ja, die Statuen hier, die sind wichtig und ich bin oft hier. Der große Mann hinter mir, der Mann mit dem Schwert und dem Stab, das ist mein Großvater. Er war ein großer König. Er hat das Land vereint und er hat gegen die ersten Kristallwesen gekämpft.«
»Gegen den Fuzan?«
»Fuzan? Das Wort habe ich noch nie gehört.«
»Und Aracus?«
»Aracus?«, fragte die Frau und lächelte. »Das ist sicher so ein neues Wort, was die jungen Leute benutzen. Nein, ich kenne das nicht. Aber ich bin alt. Mein Großvater ist gestorben. Aber er hat geholfen, die Titanen zu erschaffen. Die Titanen sind große Maschinen. Sie schlafen jetzt fast 200 Jahre lang.«
»200 Jahre?«, fragte Hayes. »Das ist aber sehr lange her.«
»Wir leben hier sehr lang, fremde Frau.«
»Ich heiße Hayes.« Hayes verneigte sich kurz und höflich.
»Ich bin Alina. Wären Sie so gut, mir aufzuhelfen? Meine Beine sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Ich werde alt und das Land wird alt.« Sie lächelte.
»Natürlich«, antwortete Hayes und berührte die ausgestreckte Hand der alten Dame. Der feste Druck, der von den schmalen Fingern der Frau ausging, wirkte wie ein Schraubstock, als wäre das Bild, das die Frau darstellte, nicht ganz der Wahrheit entsprach.
»Ich hätte noch eine Bitte. Ich meine, wenn Sie nichts dagegen haben. Leider warte ich schon seit Stunden darauf, abgeholt zu werden. Ich bin gerne hier, aber meine Enkelkinder spielen Verstecken und verschwinden öfter und ich sitze hier.«
»Wie darf ich Ihnen helfen?«
»Ich muss heim. Die Sonne brennt und ich bin alt. Würden Sie mir helfen, nach Hause zu gelangen?«
»Ich hoffe, es ist nicht zu weit entfernt«, murmelte Hayes.
»Aber nein«, kicherte die Dame. »Und Sie müssen mich auch nicht auf Ihr Pferd heben.«
Hayes fühlte ein Lachen aufsteigen, das durch ihre Nase entwich. Sie fühlte sich für einen Augenblick verantwortlich für die Frau. »Aber ja doch, die Dame.«
»Nenn mich Alina. Und wir sagen nun ›du‹, ja?«
»Ja, gut, Frau … Alina.«
Nun war die Dame daran, zu kichern.

Hayes führte Alina an den Händen über den Weg zum Rand des Kreises. Kurz bevor sie die Bäume erreichten, die den Platz einhüllten, blieb die alte Frau stehen und drehte sich noch einmal um.
»Sie liebten ihren Großvater, ja?«, fragte Hayes.
»Ja. Er war ein großer Mann. Damals kämpfte man noch gegen das Böse. Aber damals war das Böse auch einfach. Heutzutage … ist es schwieriger geworden, der Finsternis zu entkommen.«
Die Frau marschierte weiter, steuerte direkt auf eine schwarze Kutsche zu. Die Wände der Kutsche wirkten sonderbar ölig, glänzten im Licht der mittäglichen Sonne, hinterließen Muster auf dem Gehweg.
Der Kutscher war abgestiegen, betrachtete die alte Dame und Hayes, salutierte zackig, indem er beide Hände über seine Brust legte und seinen Kopf senkte.
»Gut, gut, Rolf. Bitte öffne die Tür.«
Der Mann folgte dem Befehl.
Alina drehte sich zu Hayes um. »Würden Sie mich begleiten?«, fragte sie.
»Aber Ihre Enkel … deine Enkel?«
»Die sind sicherlich schon daheim. Sie finden immer heim.«
Hayes band die Zügel ihres Pferdes an einen Haken, der an der Rückseite des Wagens eingelassen war. Sie folgte der alten Dame ins Innere der Kutsche. Die Luft trug etwas Kaltes an sich, als wäre hier eine andere Welt. Selbst der Geruch schien eine metallische Qualität zu besitzen, Kupfer und Magie.
»Keine Sorge«, meinte die alte Frau. »Sie sind hier sicherer als überall anders in Nopoli.«
Der Wagen rollte davon. Hayes blickte aus dem Fenster, sah Gebäude vorbeiwandern, sah Gesichter aus Fenstern starren, sah Kinder spielen, doch etwas schien verquer zu sein, nicht richtig. Die Augen der Fußgänger blieben für Sekunden an dem Wagen hängen. Gesichter verzerrten sich, als würden sich die Muskeln hinter ihnen zusammenziehen. War es Angst?
»Dieser Wagen ist seltsam, nicht wahr?«, fragte die alte Frau.
»Die Menschen, sie haben Angst«, antwortete Hayes und erschrak gleichzeitig über ihre Worte. Hatte sie sie wirklich gesagt? Warum?
»Die Menschen hier haben immer Angst. Deshalb sind wir da. Wir helfen ihnen.«
»Wir?«
»Meine Familie. Die Stadt war vor langer Zeit ein Hort des Bösen. Hier lebten Gesetzesbrecher, Schurken, Diebe, Mörder, Lügner, Betrüger. Doch nun nicht mehr.«
»Ich … kenne keine Stadt, kein Land, in dem es so ist.«
»Nun, das ist schade, aber verständlich. Vermutlich bist du deshalb hier«, meinte die Frau.
»Wie?«
»Nur eine Erinnerung an Annea, an Versprechen, die gehalten werden. Aber ich bin alt und mein Kopf ist wirr und schon wieder glaube ich, dass du Annea bist.«
Die alte Frau lehnte sich zurück und schloss ihre Augen. Sie wirkte friedlich, doch Hayes konnte die Worte nicht verdrängen, die Blicke der Menschen in den Straßen nicht ausblenden, die Geschichte dieser verlorenen Welt-in-sich nicht ignorieren. War sie wirklich hier? Und wenn sie wirklich hier war, was war dann »hier«? Gedanken wie diese krochen aus der Tiefe ihres unbekannten Bewusstseins und blieben kleben.

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