Hayes – Der Pfad der Toten – Kapitel 4.2

Hayes – Der Pfad der Toten – Kapitel 4.2

»Heh! Heh! Du musst warten!«
Hayes stoppte und blickte sich um. Ein alter Mann, dessen Mütze ihn von den anderen unterschied, war nach vorn getreten. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß … oder Aufregung. Sein Bart war kurz und weiß. Seine Augen starrten durch zwei metallene Reifen, die auf seiner Nase befestigt waren, starrten durch Glas, das so perfekt und klar war, dass sie es nur erkannte, weil seine Augen sonderbar winzig wirkten. Er nahm das Objekt von der Nase, rieb es kurz an seinem Umhang ab, einem schwarzen Umhang, der von dumpf-farbigen Kleksen überzogen war. Dann setzte er es wieder in sein Gesicht.
»Du musst warten«, wiederholte er.
»Worauf?«
»Durch den Kreis zu treten?« Der Mann kratzte sich unter seiner Mütze und seine Augen wirkten verwirrt. »Bist du von hier?«
»Ich bin ein Gast …«
»Ein Gast? Seit Ewigkeiten kam hier kein Gast durch. Und selbst wenn du ein Gast bist – die Reihenfolge der Anwesenden ist wichtig.«
»Verzeiht mir …?«
»Dake. Dakemus Benan.«
Hayes nickte. »Ich bin Hayes.«
Er zuckte mit den Schultern. »Hayes also. Der Name ist mir nicht ungeläufig, aber … ich kann mich nicht entsinnen, wann ich ihn das letzte Mal gehört habe. Bitte stellt Euch in die Reihe.«
»Warum ist hier so ein Aufmarsch?«, fragte Hayes. »Ist das nicht ein magisches Tor, das mich nach Nopoli bringen kann?«
»Natürlich. Aber das Tor ist abhängig von gewissen Bedinungen des Wetters und der magischen Felder, die unsere Welt durchwandern. Es funktioniert nicht immer …«
»Nicht immer?«, brüllte einer der Männer von seinem Kutschbock. »Nicht immer? Ich stehe hier seit Stunden. Du hast mir gesagt, dass es ab heute Mittag wieder funktionieren wird. Meine Ernte wird schlecht.«
»Äh ja«, murmelte Dakemus.
»Dann kann ich helfen, vielleicht?«, fragte Hayes. Sie sprang von ihrem Pferd, packte die Zügel und führte das Tier in Richtung Tor. Sie konnte die Angst des Tieres spüren. Augenscheinlich konnte es mit den Schwingungen des Rings nicht umgehen.
Dumpfer Druck füllte die Luft, als ob jemand ein Gewitter herbeigerufen hätte, doch als Hayes sich umschaute, war der Himmel über ihrem Kopf noch immer samtblau.
Sie blieb vor dem Tor stehen. Was sollte sie tun? Die Steine, aus denen das Tor geformt war, begannen, leise zu zischen. Die metallenen Zweige surrten leise. Die Zeichen auf dem Boden brummten.
»Also geht es doch!«, bemerkte der Mann auf dem Kutschbock. »Ihr haltet uns hin! Warum? Bezahlt Euch jemand?«
»Aber nein«, winkte der alte Mann ab, »das ist höchst ungewöhnlich.«
»Na los«, murmelte Hayes. Die ersten Blitze rollten zwischen den metallenen Fingern, die das Tor zusammenhielten herum. Sie ließ ihr Pferd stehen, ging die wenigen Schritte zum Ring, streckte ihre Klinge aus. Neue Blitze schossen aus dem Metall, teilten die Luft, rissen Löcher in die Wirklichkeit. Augenblicke später rollten Wellen über den Durchgang in die Stadt, wirkten wie ein See, nur falsch, nur von oben nach unten. Luftwirbel, herangetragen aus der Ferne, hinterließen Abdrücke in der fremden Energie.
»Na geht doch!«, teilte der Fahrer mit. Er hieb auf seine beiden Ochsen ein, die sich mit unendlicher Trägheit in Bewegung setzten. Als der Mann kurz davor war, das Portal zu betreten, drehte er sein Gesicht.
»Danke, die Dame. Mein Name ist Norkat. Ich würde mich freuen, wenn wir uns in Nopoli einmal sehen könnten. Ich möchte mich erkenntlich zeigen. Ich werde am Abend im ›Tanzenden Eis‹ sein.«
Augenblicke später war er bereits verschluckt worden. Andere folgten, fluchten, nickten Hayes zu. Irgendwann, nach vielleicht einer Stunde, war die Straße endlich leer.
»Ihr habt den Menschen geholfen. Aber damit habt ihr mich um mein Geld gebracht«, teilte Dakemus mit.
»Das Geld hättet Ihr sicher nie bekommen.«
Er lachte. »Damit habt Ihr wohl recht. Aber was kann ich dafür, dass die Maschine nicht funktioniert?« Er knirschte mit den Zähnen, holte aus und trat zu. Eine Welle raste durch das Portal. Winzige Steinsplitter schwebten zu Boden. »Das Teil ist alt. Vor hundert Jahren, ja, da hätte man jemanden geschickt und hätte es repariert. Diese ganze Welt zerfällt.«
»Diese?«
»Das Land meine ich. Für die meisten Leute hier ist das Land die Welt. Die verlassen uns nie. Die meinen, dass ihr Dorf ein Land und eine Stadt ein Kontinent und dass das Land eine Welt ist.«
»Und wieso kümmert sich niemand mehr um das Tor?«
»Ach«, er winkte ab, trat noch einmal zu, dann ließ er sich auf einem Stein fallen. Er seufzte und zog eine kleine Flasche aus seiner Jacke. Er bot Hayes einen Schluck an, doch sie lehnte ab. »Soweit ist es schon gekommen … man kann nicht einmal mehr einen Schluck mit einer Fremden teilen.« Er verzog sein Gesicht.
»Reitet, Frau Hayes. Schaut Euch Nopoli an. Dann werdet ihr sehen, dass nichts mehr so ist, wie es war.«

Die Reise durch das Innere der fremden Wirklichkeit war deutlich kürzer als der Sprung durch den Spiegel. Auch wurde sie hier nicht von fremden Stimmen und Gesichtern besucht. Alles wirkte dunkel, nebelig. Irgendwo zwischen den Lücken im Rauch konnte sie Schatten erkennen, aber sie konnte sich auch irren.
Und Augenblicke später stand sie in Nopoli. Träumte sie? War diese Stadt wirklich oder nur der Abdruck eines Traums. Strahlend stand die Hauptstadt vor ihm, um sie herum. Häuser, die wenigstens 3 oder 4 Stockwerke hoch waren, säumten die riesige Allee, die sicherlich nicht die einzige hier war und sie zu einem Mittelpunkt, zu einem großen Platz führten. Geschäfte säumten die Straße. Dickbelaubte Bäume standen perfekt angeordnet an beiden Seiten. Zwischen ihnen saßen Menschen an hellen Tischen. Laute Diskussionen, Lachen und Musik prasselten auf Hayes ein, gefolgt vom Klackern von Pferdehufen und dem Knirschen von Rädern. Wagen schoben sich träge vorwärts. In der Ferne konnte Hayes den Mann namens Norkat erkennen. Augenscheinlich war er auf dem Weg zum Markt.
Hayes stieg ab, nahm die Zügel ihres Pferdes und wanderte die Straße entlang. Niemand beachtete sie. Alle waren mit ihrem typischen Leben beschäftigt. Tassen und Krüge wurden gehoben. Im Gasthaus namens »Floribund« – es war groß und hell, zwei Dutzend Gäste hatten Spaß am Leben – saßen Menschen bei offenem Fenster und feierten etwas wichtiges. Die Straße selbst war mit vieltausend Steinen besetzt, Steine, die in rechteckige Form gehackt worden waren. Sie waren so perfekt aneinander angepasst, dass Hayes schon nach Augenblicken die Füße schmerzten. Sie hatte augenscheinlich das falsche Schuhwerk. Glücklicherweise konnte sie erkennen, dass dort, wo die Leute saßen und wanderten, der Weg anders war, glatt, einfach.
Leider mochten die Leute dort nicht, dass Hayes mit ihrem Pferd unterwegs war. Halbgeflüsterte Kommentare folgten ihr, als ob es verboten sei, ein Pferd zu führen. Dann tranken die Leute weiter und zogen an ihren Pfeifen, aus denen blauer Rauch quoll. Süssliches Brennen legte sich auf Hayes´Gesicht. Glücklicherweise war die Allee auch einmal zu Ende und sie stand nun tatsächlich am Rande eines Platzes. Sie hatte noch nie so etwas gesehen, selbst in Ur nicht. Ur war verfallen und gehörte den verlorenen Göttern. Doch Nopoli gehörte dem Menschen. Ein Dutzend Statuen säumten den inneren Kreis des Platzes, der von einer breiten Straße umgeben war. Wenigstens 5 weitere Alleen führten in verschiedene Richtungen, genauso breit wie jene, aus der sie gekommen war. Auch hier waren eine Menge Bäume gepflanzt worden, hinter denen die weißen Marmorkörper der Fremden standen.
Sie überquerte die breite Straße und fand sich auf einem Weg wieder, auf dem nur Menschen herumwanderten und sie und ihr Pferd neugierig betrachteten.
»Sie ist entzückend, nicht wahr?«
»Vermutlich fremd hier.«
»Ja, so sieht sie aus.« Jemand kicherte. Kinder rannten vorbei, blieben stehen, die Augen aufgerissen, rannten weiter.
Ein neuer Weg reichte ins Innere des von Bäumen umgebenen Treffpunkts der Statuen. Hayes folgte ihm. Sie konnte nicht abstreiten, dass sie neugieriger wurde, mit jedem Augenblick, den sie hier verbrachte. Die Stadt war so völlig anders als jede andere Stadt, die sie je gesehen hatte.

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