Hayes – Der Pfad der Toten – Kapitel 4.1

Hayes – Der Pfad der Toten – Kapitel 4.1

Und dennoch, es war nicht exakt der gleiche Geschmack gewesen, wie Hayes bemerkte. Der Unterschied zwischen Honig und Fleisch war winzig, aber vorhanden, als ob sie im Fleisch eine jüngere Version erlebt hätte. Auch der Wein, obwohl sauer, wirkte echter.
Das fiel ihr aber erst nach Stunden auf.
In dieser Zeit war sie weiter durch Gegend geritten. Die Straße war gewachsen, nun wirklich breit genug, um mehr als nur einen Wagen zu bewegen. Auch schien sie nicht mehr allein zu sein.
Hinter dem Dorf selbst hatte sie Felder gesehen, die zuerst leer schienen, dann mit der Zeit von Gestalten besetzt wurde, von Bauern, Männern und Frauen. Kinder waren zwischen den Erwachsenen umhergelaufen, auch Tiere. Große Ballen aus Heu lagen als goldene Berge auf dem leergeernteten Boden. Auch wirkte die Luft, je länger Hayes ritt, frischer, lebendiger, kälter. Gerüche von Menschen und Tieren krochen in ihre Nase. Lieder kreuzten sich zwischen ihren Ohren. Ja, selbst das Pferd schien den Unterschied zu bemerken.
Hatte sie eine Grenze durchschritten? War sie etwas auf der Spur?
Diese Fragen schienen aus dem Nichts aufzutauchen und wieder zu vergehen.
Sie begegnete einzelnen Wagen, gefüllt mit Menschen und ihrem Hausrat, aber diese schienen nicht in Eile zu sein. Kinder winkten ihr zu und widmeten sich ihren Spielen. Kaufleute reagierten auf ihre Anwesenheit, verzogen ihre Gesichter, als würden sie überlegen, wer die Frau, die ihnen entgegenritt, war. Sie schien … keine Fremde zu sein, aber auf der anderen Seite war sie immer jemand gewesen, die durch ihr Dasein Blicke auf sich lenkte.

Von dem Hügel, auf dem sie anhielt, konnte sie in die Ferne schauen. Kleinere Wälder schwammen auf den von Sommergras überzogenen Wiesen. Menschen und Wagen kreuzten über die Straßen, über die Wege. Hübsche Dörfer lagen in Mulden, umgeben von dicken Feldern. Das Land schien zufrieden zu sein, ein Bild für die Götter, die schlechte Bilder malten. Und wie so oft hatte Hayes den Eindruck, nicht wirklich da zu sein, einen Traum zu erleben, einen fernen Traum eines noch ferneren Träumers, eines Träumers, den nichts in seiner Wirklichkeit hielt.
Sie wurde aufgeschreckt, als man sie ansprach.
»Willst du auch nach Nopoli?«
Sie blickte nach unten und sah ein Kind, ein Mädchen in einem der Wagen sitzen. Um das Kind herum lagen hunderte Karotten, orange leuchtend, besprinkelt mit Resten dicken Mutterbodens.
Als sie nichts sagte, meinte das Mädchen: »Wir wollen nach Nopoli. Dort gibt es das meiste Geld für unsere Ernte. Es gibt andere Städte, aber dort bekommen wir weniger Geld.«
»Wo … ist denn Nopolo und was ist das?«
»Nopoli«, kicherte das Mädchen und strich sich eine endlos lange Strähne aus dem Gesicht. »Nopoli ist die große Stadt, wo der König und die Zauberer wohnen. Sie ist viele Tagesreisen entfernt.«
»Aber wird eure Ernte nicht schlecht, wenn es so lang dauert?«
Der Mann auf dem Kutschbock drehte sich zu ihr um. Seine Augen starrten sie an, als hätte sie etwas dummes gesagt.
»Aber wir fahren nicht so weit. Wir fahren zum Tor.«
»Zum Kreis in der Gegend.«
»Ja, Papa. Zum Kreis.« Das Mädchen rollte mit den Augen.
Hayes musste grinsen. Es fühlte sich komisch an, so selten wie sie ihr Gesicht überhaupt in diese Form brachte.
»Was ist das?«
»Du bist nicht von hier?«
»Ich bin nicht von hier.«
»Du musst von sehr weit herkommen«, lächelte das Mädchen. »Du kennst den Kreis nicht. Du kennst auch Nopoli nicht.«
»Ich komme aus anderen Ländern. Ich war in Ur und in Äuatien und in anderen Gegenden.«
»In Ur leben die Götter. Ist es da sehr schön?«, fragte das Mädchen. Ihre blauen Augen glitzerten.
»Es gibt viele alte Tempel, ja.«
»Und es gibt dort Zauberer.«
Hayes zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich habe keine gesehen.«
»Keine gesehen? Aber …«
»Wir sind da«, meinte der Mann auf dem Kutschbock.
Hayes konnte hinter der Menge an Menschen kaum etwas erkennen. Es mussten um die 30 oder 50 Wagen sein, die den Weg blockierten. Am anderen Ende der Straße konnte sie etwas erkennen. Sie verabschiedete sich von ihrer Begleitung, ließ ihr Pferd über den Graben steigen, der dicht an der Straße entlangschlich und ritt über das Feld bis zu dem Gebilde am Waldrand.
Es war aus Stein und dennoch nicht aus Stein. Das Metall schien aus dem Boden gewachsen zu sein und sich ähnlich Efeu an einem Tor emporgewunden zu haben. Das Tor musste mindestens 10 Ellen hoch und breit zu sein, ein Ring aus dumpfem Licht. Auf dem Boden unter dem Tor war eine eiserne Platte angebracht, durchbrochen von unbekannten Zeichen. Hayes´Hand griff zu ihrem Dolch. Sie hatte das Summen bemerkt, das von der Klinge auf ihr Bein gesprungen war. Die Zeichen auf dem Metall glichen den Zeichen auf der Platte und je näher sie an das Tor heranritt, desto stärker leuchteten die Symbole.

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