Hayes – Der Pfad der Toten – Kapitel 2

Hayes – Der Pfad der Toten – Kapitel 2

Hayes wusste nicht, ob sie tatsächlich richtig war. Der Pfad – mehr war der Weg nicht mehr -, der sie vor Minuten noch zwischen den beiden Felswänden in dieses Land geführt hatte, endete direkt hinter den gigantischen Steinen, die in den Himmel ragten. Eine Wiese begrüßte ihre Ankunft. Meilenweit schien das Gras zu reichen. Der Geruch von Blumen, deren rote und gelbe Blüten immer wieder auftauchten, als wären sie Fische in einem grünen Meer, überwältigte sie fast. Der Wind, der auf der anderen Seite der unsichtbaren Mauer kalt und von Staub und Vergänglichkeit gesättigt gewesen war, schwebte hier durch den blauen Himmel. Unhörbare Wellen krochen über die saftigen Grashalme, die von Sommer kündeten, vielleicht kurz vor der Ernte. In der Ferne, weitab der gartenhaften Landschaft, krochen dunkelgrüne Wälder über die Hänge der Berge. Die Sonne war warm, drückte aber nicht auf den Kopf des neuen Gastes. Jeder Tropfen Schweiß wurde bereits nach Augenblicken vom Flüstern des Windes weggeküsst.
»Bei Fuzan«, murmelte Hayes. »Bin ich hier im Land der Toten oder …?«
Sie stoppte. Bewegten sich dort Menschen?
Ihr Pferd setzte sich in Bewegung. Um sie herum bewegte sich die Welt. Eine halbe Stunde später erreichte sie einen einzelnen Baum, der inmitten der Wiese stand, als wäre er die Erinnerung an eine Zeit, in der es hier von Bäumen nur so gewimmelt hatte. Seine Äste schienen schwer beladen zu sein. Ein Aroma von Harz und Honig überwältige Hayes fast. Sie blickte nach oben und erkannte, dass sie sich nicht geirrt hatte. Ein Bienenstock hing inmitten des dicken Laubs. Zufriedenes Summen erfüllte ihr Ohr. Die Bienen wirkten fast überarbeitet, was hier, in dieser Gegend nachvollziehbar war. Hayes fühlte Hunger aufsteigen. Sie versuchte, den Bienenstock mit ihren Händen zu erreichen, doch er blieb außerhalb ihrer Reichweite.
»Beweg dich nicht«, meinte sie zu ihrem Pferd. Augenblicke später stand sie auf ihrem Sattel und streckte ihre Arme aus. Bienen summten um ihre rechte Hand herum, als würden sie sich fragen, was dies sollte.
»Der Honig muss doch irgendwo sein«, murmelte sie, während ihre Finger das Innere des Bienenstocks betasteten, doch nichts blieb hängen. Alles wirkte unwirklich, sonderbar leer, verwirrend trocken. Sie zog ihre Finger in die Freiheit. Glitzernder Staub lag auf ihrer Haut, feinkörnig wie Asche. Sie roch daran. Er roch nach gar nichts – sie konnte nicht einmal ihre Haut riechen.
Ihr Pferd schaute auf, blickte sie an, als würde es verstehen, was sie fühlte.
»Bizarr«, teilte sie ihm mit. »Wirklich bizarr.«

Knirschende Geräusche in der Ferne, gefolgt vom Klick-Klack von Hufen. Hayes sprang vom Sattel auf das weiche Moos, das unter dem Baum wuchs. Gestalten tauchten hinter einer Kuppe auf. Zwei Pferde zerrten einem Wagen. Der Mann auf dem Kutschbock fluchte und peitschte auf die armen Tiere ein. Aus dem Wagen selbst starrte das Gesicht einer Frau, darunter zwei Kinder, die sich umblickten, weinten.
»Schneller«, brüllte der Mann, dessen Gesicht sich bleich vor dem blauen Himmel hinter ihm absetzte. Seine Kleidung wirkte sauber, fast schon teuer. Der Wagen musste schwer sein, denn die Stoffwände, die ihn überspannten, zitterten kaum unter dem Taumel der Tiere, die an ihm zerrten.
»Sie flüchten«, dachte Hayes. »Aber vor wem?«
Als die Leute nicht auf ihren Ruf reagierten, sprang Hayes auf ihr Pferd und ritt ihnen entgegen.

»He da«, meinte sie, als sie sich direkt neben dem Wagen befand.
Die Angesprochenen reagierten kaum. Nur eines der Kinder legte seinen Kopf schief, als es Hayes erfasste.
Sie wiederholte ihren Gruß. Jetzt drehte auch die Frau ihr Gesicht zu ihr, doch dort konnte Hayes nur Entsetzen erkennen, sprachlose Angst, wortlosen Terror.
»Schneller«, brüllte sie dem Kutscher zu. »Beim Licht des Lebens!«
»Nur noch eine halbe Meile!«, antwortete er, während er sich abmühte, nicht zu schreien.
»Kann ich helfen?«, fragte Hayes.
»Niemand kann uns helfen!«, zischte der Kutscher. »Nur Flucht kann uns helfen! Lass uns allein, Weib!«

Hayes ließ ihr Pferd zurückfallen. Ein Gefühl von Zorn und Verwirrung legte sich auf ihren Verstand. Wieso wollte man ihre Hilfe nicht? Sie zuckte mit den Schultern, während sie sich zwang, langsamer zu atmen.
»Akzeptiere das Unabänderliche«, murmelte sie. »Respektiere die Wege.« Sie kannte diese Worte, diese Zitate, nutzte sie, seitdem sie lebte, so lang oder kurz dies auch immer war. Dies waren ihre Gebete, so selten wie sie diese aussprach.
Nachdem sie sich beruhigt hatte, blickte sie sich um, um zu sehen, wie weit die Leute gekommen waren, doch da war nichts, niemand, nur die weite Ebene voller Gras und Blumen und in der Ferne zwei Felsen, die wie Finger in den Himmel reichten. Auch hörte sie niemanden, nur ihr Herz und das leichte Schnauben ihres Pferdes unter sich und den Gesang der sonderbaren Bienen im Laub des einsamen Baumes.
Alles war wie immer, ewig. Doch etwas hatte sich geändert. Sie erkannte jetzt einen Weg, einen alten Weg voller Löcher, die mit Steinen gefüllt worden waren, von wem auch immer. Kieselsteine glitzerten dumpf in die Welt hinaus. Der Weg, vielleicht 7 oder 8 Ellen breit, breit genug für einen Wagen und zwei Pferde, kroch an Hügeln vorbei, kroch einige Meilen durch die vorher endlos scheinende Wiese und verschwand im Dickicht eines Nadelwaldes.
In ihrem Kopf kämpften Gedanken und Gefühle miteinander. Ein ungutes Gefühl hatte schon bei Kontakt mit dem grauen Honigstaub eingesetzt, hatte sie gebeten, diese Gegend hinter sich zu lassen, doch ihr Verstand zerrte sie tiefer in das Land hinein, das Land, das den Toten gehören sollte, aber so wirkte, als existierte hier die Essenz alles Lebens. Und dies musste sie ergründen.

Sie wusste nicht, was geschehen würde, als ihr Pferd seine Hufe auf den Weg aufsetzte, doch das Tier folgte ihrem Kommando, als hätte es nie etwas anderes getan. Jegliche Furcht, die durch seine Muskeln gekrochen war, schien verschwunden zu sein. Fast wirkte es so, als würde es das erste Mal in seinem Leben Freude empfinden, die Freude der Freiheit. Hayes lächelte, als das Tier in den Trab, in den Galopp überging, so einfach, als würde es durch das Leben schwimmen, einem Strom folgen, einem Strom, der irgendwann im Meer der Erkenntnis landen würde. Die angsterfüllten Gesichter der Fliehenden waren bald vergessen.

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