Die Hütte am Strand

Die Hütte am Strand

Von all den Dingen, die das Universum mir entgegenwarf, war die Sache mit dem Haus am Strand die Schlimmste. Man wird mir verzeihen, wenn ich sporadisch dem landläufigen Gerede entgegenwirke, dass es keine Geister gibt – oder schlimmer: Dass sie gut sind und nur die Seelen von Verstorbenen, die in irgendeiner Art und Weise so tun, als ob sie nur bei uns bleiben würde, wenn wir ihnen gestatten, tätig zu sein. Naja, das obere ist Blödsinn.

 

Das Haus am Strand war mein erster Blickfang, als ich im Jahre 1988, also vor fast 40 Jahren, mit meinem Vater an die Ostsee und damit an einen Strand fuhr. Ich kann mich kaum noch daran erinnern. Die Reise selbst, eine Bahn in der DDR-Zeit, die lange fuhr, über Nacht – für billige 600 km oder weniger – war belanglos. Das Rattern der Schienen hatte den üblichen einlullenden Effekt auf mich, ich schlief ein. Irgendwann waren wir dann an der Ostsee und nur einige Kilometer entfernt. Man merkte bereits, wie das salzige Klima und das süßliche Knirschen der Algen, die auf dem Sand dahinrotteten, sich auf meine Nase legte. Ich bin ein Kind der Berge, ein Cimmerier sozusagen.

Rostock war eine schöne Stadt damals und ist es sicher auch noch heute, nur damals war sie anders, näher an mir dran als ich an ihr. Egal. Wir waren nur kurz dort, besuchten Verwandte. Diese Besuche waren meistens jenseits von spannend und informativ und so fand ich mich bald an einem Strand wieder, eine endlose Ansammlung von Sandkörnern, aber nicht in Rostock. Glaube ich jedenfalls.

Wenn ich nach links schaute, sah ich ferne Erhebungen, keine Berge an sich, nur Felsen, bewuchert mit verkrüppelten Kiefern, deren Körper sich durch Schwerkraft und Wind gegen die kalkigen Steine pressten. Der Übergang zum Meer, diese Düsterheit, die sich in den herangeschwemmten Algen fortsetzte, hinterließ einen starken Einfluss auf mich. Ich konnte fühlen, das in dieser Finsternis etwas wartete, lauerte, eine gedankenlose Kreatur, deren einziger Wunsch es war, mich in die kalte Nacht zu ziehen, die kalte nasse Nacht. Es fiel mir schwerer und schwerer, den Sirenenruf zu ignorieren, ohne dass ich ihn je hörte. Dennoch wandte ich meinen Blick ab und schaute nach rechts. Auf der rechten Seite erwartete mich das Gegenteil, als habe jemand den Schatten herausgeschnitten und ihn nach links verschoben. Eine gleißende Fläche betrachtete mich, als wäre ich ein Besucher aus einer fernen Welt. Die Sandkörner glitzerten scharf, fast wie gelbe Diamanten. Das Licht brannte in meinen Augen und so suchten sie einen Punkt, der sie retten sollte. Sie blieben an einer Hütte hängen.

Die Hütte stand einfach nur da. Hatte sie das schon, bevor ich hier angekommen war, bevor ich sie betrachtete? Ich weiß es nicht mehr. Sie existierte, ohne die Notwendigkeit zu besitzen, zu erscheinen. Sie war alt. Älter als das Leben. Älter als das Licht. Die Wände der Hütte waren irgendwann einmal blau gewesen, blau wie das Meer hätte sein sollen, das mich stattdessen dumpf grün ignorierte. Die abgeplatzte Farbe, von Wind und Zeit davongetragen, trug die Erinnerungen an gelbe Sonnen, tanzende Kinder, weiße Wolken, gestreifte Boote, deren rote Fahnen verrottet im Wind hingen.

Die Wand trug kein Fenster, keine Tür. Ich konnte auf auf der Rückseite nichts erkennen, was mich in diese Hütte gezogen hätte. Aber ich wollte hinein. Ich war 11 Jahre alt damals und trotz meiner kindlichen Angst, die ich in meinem Herzen trug, als wäre sie die Wunde eines alte Mannes, wollte ich sehen, was es darin gab. Netze? Angeln? Angemalte Fische? Ich wanderte über den brennenden Sand, der meine Füße versengte. Die Sonne wirkte von oben soviel schwächer, als habe der Sand ihr alle Energie geraubt.

Auf der Vorderseite starrten zwei fensterlose Löcher in die Ferne, über das Meer und noch viel weiter, direkt in die Nacht. Ich fühlte, dass es eine Verbindung zwischen den beiden Finsternissen gab, als ob sie sich gegenseitig füllten. Und ich war ein Teil davon.

Wie man glaubt, ist dieser Absatz einer Lücke von fast einer Woche untertan oder nur 2 Tagen und 40 Jahren. Ich glaube, dass meine anfänglichen Gedanken fehlerhaft waren. Ich fühle, dass ich mich verhaspele, wenn ich weiter so schreibe. Die Fenster waren nicht schwarz, sondern sie waren einfach nur lichtlos, so lichtlos, dass selbst die Schwärze davor zurückschreckte, die abgesplitterten Rahmen, die das Nichts einhüllten, zu betreten. Und ich war nun ein Teil davon.

Meine Schritte waren nicht mehr die eigenen. Meine Füße erinnern mich jetzt, nach all der Zeit, noch immer daran. Manchmal glaube ich, auf Watte zu laufen, manchmal ist die Watte aus Stacheldraht und Glas. Der Strand scheint sich noch immer an meinen Fersen festzusaugen, als ob jedes Sandkorn mich anflehen würde, keinen weiteren Meter zu gehen.

Und dennoch war ich irgendwann auf der anderen Seite des Hauses. Eine Tür begrüßte mich mit Ablehnung. Sie war offen, nur für einen Spalt, doch der Spalt war ein Mund, der mir unhörbare Gebete entgegenwarf, als wäre ich ein tauber Gott. Die Treppenstufen hingen am Haus wie der Bart eines toten Riesen, zerdrückt von Schwerkraft und Flut, ähnlich den schulterhohen Stelzen. Hatte ich diese Stelzen schon gesehen oder waren sie dem Haus gewachsen, während ich mit mir kämpfte? Ich weiß es nicht mehr. Jede Autobiografie ist eine weiße Lüge, ungewiss und dennoch falsch. In diesem Alter, also mit 11 Jahren, war ich noch nicht fähig, zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden und auch jetzt merke ich noch immer, dass ich bilderlosen Phantasmen anhänge.

Meine Hände erreichten plastikblaue Reling des fest in den Boden eingehämmerten Schiffs in Form eines Hauses und zerrten mich nach oben. Mein Rücken schmerzte, ich fühle die Streifen in meinen Muskeln noch immer, Streifen, die damals wie Drähte waren und die nun in meinem Fleisch herumwandern auf der Suche nach Erleuchtung. Meine Beine, noch nicht so dick wie jetzt, zerrten meinen schmalen Körper in die Höhe, weg vom blutsaugenden Sand. Meine Finger knirschten, weckten mich aus der ungesunden Meditation.

Wenn fünf Millionen Jahre ein „bald“ erzeugen, dann war ich bald auf der obersten Sprosse der Treppe, Leiter, was auch immer angekommen. Die Tür bewegte sich, schwang sich selbstständig auf, als hätte sie auf meinen Atem gewartet. Die Finsternis verschluckte sich, und gab die Wirklichkeit frei.

Die Wirklichkeit war eine leere Kammer. Licht strömte aus den Fenstern auf der rechten Seite herein, benetzte den kahlen Boden und die kahleren Wände. Mag sein, dass ich Worte erfinden muss, aber am Ende ist jedes Wort erfunden. Dort, an den Wänden, klebte etwas, was nicht existieren konnte, etwas, was von der Gegenseite, aus dem Anti-Dasein, das selbst das Nichts verschmäht, gegen das unsichtbare Glas gepresst wurde. Gegenhände zeichneten keine Bilder dagegen, Antibilder, die mir beim Anblick die Sicht aus den Augen zerrten, die mich erblinden ließen und gleichzeitig mein Hirn umformten, ich fühlte nicht, wie es geschah. Ich merkte, dass ich nicht mehr in meine Welt gehörte, die Welt, die Dasein belohnt und das Gegenteil verbietet. Und ich lachte bittere Tränen.

Augenblicke später stand ich wieder in der materiellen Welt. Und ich hörte meine Stimme und sah meinen Vater, der mit zuwinkte. Ich winkte zurück. Und ich winkte der Nichthütte nicht zu. Und sie lächelte nicht, als wäre sie glücklich, dass ich ihren Geist nicht erfasst hatte.

Was sind Geister schon? Alles andere. Alles andere als anders.

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