Die Beobachterin der Leere

Die Beobachterin der Leere

Das Wasser war flach, so dass sie nicht versank. Zumindest noch nicht. Wellen klatschten gegen ihre Knöchel, gegen ihre Waden, Knie. Sie wusste, dass die Flut kam. Langsam. Unwirklich. Doch sie stand noch da, als das Wasser ihre Hüfte berührte. Erst dann drehte sie sich um und schaute an Land zurück. Die Dünen schwammen im gelben Licht eines einsamen Septemberabends.

Das Gras knirschte unter ihren Füßen. Der Sand fiel in den Gesang ein. Einsamer Wind kroch in Fetzen über die endlose Landschaft. Sie konnte nicht sehen, wo das Land endete und wo die See wieder gewann. Vielleicht war dies hier eine Insel, vielleicht auch nicht. Sie hatte nicht die Kraft, weite Strecken zu gehen. Sie war müde.

Sie setzte sich an den endlosen Strand. Winzige Steine säumten die Grenze zwischen Wasser und Land, Steine, Muscheln, Erinnerungen an menschliche Träume. Rostige Schrauben, ein halber Balken in T-Form ragte eine Armlänge in die Freiheit, streckte sich der Sonne entgegen, als ob es diese kümmerte.

Sie legte sich auf den Rücken. Der Sand wärmte sie, doch der Wind betrachtete sie als Feind, versuchte jetzt bereits, sie zu vertreiben. Sie würde den Strand auch verlassen, bald, aber zu ihren Bedingungen. Sie versuchte, die Augen zu schließen, aber die wenigen Wolken, die den hellgrauen Himmel durchzogen, wirkten wie Magnete, zogen ihren Blick, ihre Gedanken an.

Als sie erwachte, war es bereits spät. Reste eines fernen Mondes kratzten am Firmament, verzerrten die wenigen Sterne, deren Licht stark genug war, um nicht ignoriert zu werden. Flimmernde Blöcke krochen durch die Dämmerung, Träume einer fernen Zivilisation. Der Mond erinnerte sie an eine Videospielfigur, an einen „Pac Man“. Doch sein Labyrinth war die Gravitation und die einzigen Geister, die er kannte, waren die Fetzen seiner Erinnerung.

Sie stand auf, strich sich den Sand von den Beinen und wanderte davon. Eine unbestimmte Zeit später blieb sie stehen. Sie ging in die Knie, presste ihre Hände in den Sand, suchte, fand, drückte.

Etwas klickte, zischte. Das Brummen des alten Motors wirkte seltsam beruhigend in dieser endlosen Stille. Schwärze kroch aus der Tiefe heran. Doch Sie brauchte kein Licht, kannte jede Stufe, jeden Absatz. Endlose Wiederholungen hatten Spuren in ihrem Gehirn hinterlassen. Alles andere wirkte fremd.

Sie wanderte durch die Nacht. Wasser glitzerte im Schein ihrer eigenen Existenz. Einige Pilze glühten an den Wänden. Die Tiefe fühlte sich sicher an, anders als die Weite.

Sie umging die verrosteten Sprossen der alten Leiter, in dem sie über die Brüstung kletterte und sprang. Sie streckte ihre Hände aus, berührte und packte einen Balken, dessen rissiger Rost an ihrer Haut leckte. Wieder ließ sie los. Ihre Füße berühren den Abhang. Reflexartig ging sie in die Knie und rollte in die Tiefe.

Die Tiefe war weich und leer. Einzelne Erinnerungen waren zu tasten, Dosen, Löffel, kantige getrocknete Proteinwürfel, zu feinem Pulver zermahlene Kohlehydratkekse. Für einige Augenblicke blieb sie liegen, berührte ihre Umgebung, machte sich ein Bild von ihrer Position. Dann stand sie wieder auf, umwanderte die Balken, die in die Höhe reichten, ging einige Schritte, bis sie die Anwesenheit einer Mauer spürte. Sie berührte das kalte Metall, das unter ihren Fingern bebte, als würde es leben. Es rauschte, dann öffnete sich vor ihr eine Öffnung.

Das schwache Licht schmerzte in ihren Augen und sie musste sich, wie so oft, umdrehen und ihren eigenen Schatten betrachten, der die gegenüberliegende Wand streichelte. Als die Schmerzen vergingen, drehte sie sich wieder um und ging ins Licht.

Hinter ihr schloss sich die Öffnung. Sie war nun allein. Wirklich allein. Hier, in dieser Umgebung, die so kalt, so steril, so lebensfeindlich war, schien sie nicht zu passen. Alle Kraft verließ sie. Sie wusste, dass dies geschah, Tag um Tag. Sie schleppte sich zu dem Sessel, der in der Mitte des Raums stand, beleuchtet von einem Dutzend Monitore, die das gleiche graublaue Licht ausstrahlten.

Sie ließ sich fallen. Das alte Kunstleder schmiegte sich an ihre Haut. Sie wusste, dass sie gleich verschmelzen würden. Zwei Armlehnen wurden nach oben gefahren. Die winzigen Motoren stotterten, als würden sie husten. Ein Stich. Eine Nadel bohrte sich in ihren linken Arm. Augenblicke später krochen einzelne Punkte über die Monitore vor ihr, verwandelten sich in Bilder, die zu einem Gesamtbild wurden.

Die Erde. Kalt. Tot. Wasser umspült die wenigen Reste der Städte, die Balken der Häuser. Gras wächst bis zu einer gewissen Höhe. Bäume wirken wie Büsche. Wellen glitzern. Eine einzelne zerfallene Struktur aus Rost klebt an einem Fundament aus rissigem Beton. Bilder aus der Tiefe. Blinde Augen starren ins Nichts, Klauen greifen nach Wurzeln, nach Pilzen, nach Stöcken, die geschwenkt werden, während die taumelnden Bewegungen der kurzen Beine dafür sorgen, dass der aufrechte Gang noch nicht verlernt wurde. Tiefer und tiefer wandern die Bilder. Feuer brennen, verwandeln die Tunnel in Nachthimmel, unterbrochen vom Glitzern flackernder Sterne. Kälte kriecht über den morastigen Boden. Einzelne Knochen, zersplittert und vom Knochenmark befreit, verrotten auf Haufen an den Wänden. Ein Kind wird geboren. Ein altes Kind verschwindet in der Tiefe. Ein alter Mann stammelt unhörbare Fetzen, sein Mund sabbert. Ein Dutzend der Kreaturen sitzt im Halbkreis um ihn herum. Er zeigt ein Stück Plastik, lässt es umhergehen. Es ist eine rosafarbene Gießkanne für Kinder. Sie werden die Farbe nie sehen. Aber sie fühlen die Magie dieses Objekts. Es ist ein Symbol für sie. Ein Zeichen der Anbetung.

Sie erwacht aus ihrem Traum. Die Monitore glühen wieder in grauem Blau. Sie steht auf, wendet sich nach links. Sie geht in die Knie und zerrt ihr Gestern in die Höhe. Sie öffnet eine Klappe in Hüfthöhe und legt das Gestern auf die Klappe. Schiebt das Gestern. Das Gestern verschwindet in der Tiefe.

Die Monitore beben. Ein Riss erscheint, wird größer und größer. Sie betrachtet den Riss, berührt die scharfen Kanten. Sie geht durch den Riss. Licht, blau und grau hüllt sie ein. Endlose Wellen kriechen über den Horizont. Gras knirscht im Sand. Sie bleibt stehen, hebt ihre Augen. Blinzelt. Der Mond verschwindet am Horizont. Fetzen alter Satelliten flimmern. Ein Dutzend Sternschnuppen verglüht. Verglüht wie die Menschheit, in einem Tanz aus Ordnung und Wahnsinn.

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