Das Lied – ein Märchen

Das Lied – ein Märchen

„Bist du da?“

Kein Geräusch hinter der Tür. Ich klopfe erneut. Nichts. Kein Geräusch, kein gar nichts. Vorsichtig schiebe ich meine Hand auf den Türknauf, drücke das dürre Holz von mir.

Ich muss mich erst an das grelle Licht gewöhnen, erfasse den verhangenen Spiegel, den umgeworfenen Stuhl auf roter Auslegware.

„Bist du da?“ frage ich noch einmal und irgendwo im Hintergrund stöhnt jemand.

„Mann, wir müssen auf die Bühne. Teh Metal-Crowling-Company ist nichts ohne dich, Paul.“ Wieder stöhnt jemand. „Ich hoffe, du hast dir kein Koks reingezogen. Du weisst, du bist auf Entzug.“

Ich trete an den Wandschrank, reiße ihn auf. In der Ecke, zusammengekauert, Paul „Crowling Madness“ McNeal.

„Was ist los?“

Er hebt den Kopf, presst seinen Mund durch die zusammengeballten Hände.

„Ich kann nicht…“ sagt sie.

Sie?

Die Stimme, die durch die schwarzen Zähne streicht, ist keinesfalls die von Mr. Crowling Madness. Sie gleicht einer… alten Frau.

„Hast du Kreide gefressen, Mann?“

Er schüttelt den Kopf.

„Es ist einfach…“ erneut diese Stimme. Sie erinnert mich an eine  Großmutter. Nett, niedlich, vom Leben erfahren, doch liebenswert. Aber nicht fürs Metallen geeignet.

Ich helfe Paul hoch. Wie vom Druck tausender Hochhäuser zusammengepresst, kriecht er durch den Raum und lässt sich vor seinem Tisch fallen.

„Was ist passiert?“ meine Stimme beginnt, latent panisch zu werden.

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„No Way. Sie können so nicht auftreten. Ihr Freund hat eine plötzliche, vermutlich krankhafte Veränderung der Stimmbänder mitgemacht. Es gibt keine medizinische Erklärung auf den ersten Blick. Wir müssen erst die Untersuchungsergebnisse abwarten.“

Ich nicke und unser Manager beginnt, den Türrahmen mit seinem Stirnabdruck zu pflastern.

„Das Konzert ist in 2 Stunden. Macht nicht so einen Müll, Jungs. Wir sind im Fernsehen. Wir sind auf 20.000 TV-Sendern live. Nochmal. Wir sind global.“

Ich nicke.

„Wann hat das angefangen?“ frage ich Paul noch einmal. Er schüttelt den Kopf.

Draußen versammeln sich die Roadies, starren in die Garderobe, tratschen leise.

Paul hebt seinen Kopf, betrachtet die Gruppe und kreischt mit seiner unsagbar süssen Stimme: „Geht doch weg, Jungs!“

Entsetzte Gesichter, alle stürmen davon, haben etwas zu tun. Einer bleibt. Starrt in Pauls verzerrten Mund. Tritt näher.

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„Bist du sicher, dass es hier ist?“

Randy, der Roadie, nickt. Das Haus erinnert mich an die faszinierende Dokumentation über Architektur des Prekariats. Dunkle Fensterglasaugen aus biligem Fensterglas blicken auf uns herunter.

Die Treppe hinauf ist gesät mit den Abdrücken tausender kleiner Füsse. Randy klopft an die dunkelgrüne Tür, die sich vor uns auftut.

Einige Skunden später tritt eine Gestalt ins Treppenhaus.

„Ist Melly da?“ fragt Randy. Die Gestalt nickt.

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Tausende Menschen reisst es von ihren Stühlen, als „Teh Metal-Crowling-Company“ den Weg auf die Bühne findet. Kameras suchen die Umgebung ab, finden die Gesichter der Gruppe, düstere Visagen, denen man nicht am Tag begegnen will, die aber durch ihre bizarr anmutende Art, Musik neu zu erschaffen, in die Weltgeschichte eingehen wird.

Paul wischt sich die Stirn ab. Dann geht er auf die Knie, schaut in das Gesicht des kleinen Mädchens, das sich aufgeregt an ihren Teddy klammert. „Deine Oma wäre stolz auf dich, kleine Melly.“ Sie nickt„Der Sandmann hat deinen Wunsch erfüllt. Dann gehst du aber schlafen, ja?“ Sie lächelt und drückt den Musiker.

Er dreht sich um, starrt auf die Bühne, lächelt, schüttelt die Gelenke aus.

Dann tritt er hinaus in die brodelnde Meute. Weder fühlt er den Druck der Kameras, noch die  gleißenden Lampen. Nur eine Sache fühlt er, eine gewisse Verantwortung. Er dreht sich zu mir um und ich nicke. Doch er hat nicht auf mich geschaut, sondern auf die kleine Melanie.

Er hebt die Arme und die Musik stoppt.

„Ich erkenne diese Stimme. Sie gehörte meiner Mutter. Sie hat sich so um meine Tochter gekümmert, hat sie fast alleine aufgezogen. Ich bin zu lang unterwegs gewesen.“

„Weisst du, Onkel. Meine Oma ist im Himmel und sie hat mir immer ein Lied vorgesungen. Sie ist weg und kann mir das Lied nicht noch einmal vorsingen und ich kann nicht mehr gut einschlafen und dann hab ich dem Sandmann ein Bild gemalt und habe daraufgemalt, wie meine Oma mir das Lied vorsingt. Onkel, du hast die Stimme von meiner Oma. Kannst du mir nicht das Lied vorsingen?“

Das Publikum starrt auf die Bühne, vereinzelte Rufe werden laut. Im Hintergrund klicken Fotoapparate, surren Kameras.

Paul öffnet seinen Mund… und eine klare, sanfte Stimme schwebt, einem Regenbogen gleich über die versammelten Menschen

„Im Wiesental ein Häuschen steht….. ein Häuschen hübsch und klein… und in dem kleinen Häuschen wohnt… mein lieb Großmütterlein“

Ende.

einen fröhlichen Sonntag euch

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