Dämon – Kapitel 9 – Viola
Die Straße ist lang, belebt, kühl. Es ist ein kühler Maitag. Ja. Kühl wie das Herz einer Frau, die gerade… es donnert. Menschen kreischen. Sie dreht sich nicht um. Alles ist erledigt. Selbst wenn er überlebt, wie wird er den Körper seiner Mutter erklären, die im Sessel liegt, so tot wie man sein kann mit einem Küchenmesser im Hals? Sie hat einfach nicht aufgehört zu reden, sowas könnte er anbringen, aber das wird er nicht, denn sein verbrannter Kehlkopf wird nur röcheln und Rauch spucken. Leute rennen an ihr vorbei. Gut. Sie senkt ihren Blick, dreht sich um, schlägt sich die Hände vor den Mund und eskaliert inwärtig, „Mein Gott“ kreischt sie leise, damit jemand sie hört, dann starrt sie vielleicht eine Minute auf das Feuer, bevor sie davonwandert.
Sie ist frei. Gott hat sie verlassen, als sie seinen Pfad verlassen hat, ihr Versprechen gebrochen und so weiter. Quark mit Soße. Sie kichert, ein alter Mann, klassisch Hut und Brille und altem grausträhnigem Hund, starrt sie an, dann das Fenster, dann zuckt er mit den Schultern, als würde er die Verbindung aufbrechen, die sich kurz in seinem Hirn gebildet hatte. Violas Füße sind umso leichter, er schlurft, sie hüpft fast, nur fast. Ihre Augen blicken in der Ferne auf die Goldelse, die den roten Sonnenuntergang in ein paar Stunden jetzt schon anvisiert, sie starrt nach Westen, dorthin, wo ihre Freiheit ruht. Aber sie ist so tot wie die Familie Achim und Mutter. Wie hieß die Alte nochmal? Egal. An der Oper vorbei, wo ein paar junge Leute so tun, als würden sie Ahnung von Richard Wagner haben (Ja, die Straße ist einfach nur knapp 500m weiter nördlich, ihr Arschgeigen), aber Touristen sind so unwillig, sich vorzubereiten, wenn sie nach Berlin (BER!LIN!) kommen. Viola ist hier geboren. Wurde vertrieben, ihre Eltern hatten sich doch entschieden, nach Süden zu ziehen, wo die Menschen entspannter sind, wo das große Geld wartet, aber mit spätestens 16 hatte sie die körperlich-visuelle Verbindung zu ihnen unterbrochen und bis auf gelegentliche Telefonate, die immer von ihrer Mutter ausgehen, gibt es nichts mehr, das sie an das Dorf erinnert, wo sie 10 Jahre mit lahmarschigen Leuten verbringen musste. Nichtmal den Namen kennt sie mehr. Wozu auch? Sie fährt doch nie hin. Hier… sie streckt ihre Arme aus, berührt die berühmte Luft der Hauptstadt, hier wird sie sterben.
Kreuzungen entfernt, abgebogen in den unnachahmlichen Wirrwar Berlins setzt sie ihre Füße auf eine Bank, zieht eine ihre Strumpfhose aus und wirft sie in einen orangenen Behälter. Irgendjemand wird sie schon klauen. Nicht jeder ist so peinlich zurückhaltend wie Achim. Gewesen, meint sie, gewesen. Selbst wenn er überlebt hätte, was kann er sagen ausser „hmmm,iäiä,hmmm“ mit zusammengeschmolzener Gesichtsmaske? Seine Art, Liebe zu machen, liegt auf Platz 97. Dabei hat sie noch nichtmal…. sie muss ne Liste mal machen. Ja. Ne Liste, Wer/Wann/Punktzahl. Oder besser nicht. Der Wind auf ihren nun bloßen Knien ist eine Erinnerung, dass sie auch nur ein Phantom ist und ein Phantom schreibt keine Listen, sondern hat entweder alles im Kopf oder es ist egal.
Zu viel denkig, zu wenig gelenkig, so wandert sie weiter. Auch ihre Omajacke hat sie ausgezogen und entsorgt, es gibt genug Parks in der Nähe. Der Ring zum Schlüssel hängt an ihrem Ringfinger, ist eine Verbindung zu ihrer Zukunft; im Schließfach liegen neue Klamotten für sie bereit.
Warum sein Tod? Warum ist die Erde kein Würfel…? Weil seine bescheuerte Aktion seine Gesicht in die Öffentlichkeit gebracht hatte. Punkt. Keine Chance mehr, unauffällig durch Berlin zu gehen, wenn jemand herausfinden würde, dass der Schläger eine Freundin hätte, eine eigentlich gesichtslose Frau, die ihr Tagwerk damit verbringt, hin und wieder jemanden abzumurksen. Trotzdem flucht sie. Sie hatte immer einen Unterschlumpf bei der Alten und dem Typen, Achim, immer was mit Leberwurstschnitte und Wacholderschnaps, mit sinnlosem Gerede im Hintergrund, das typische Leben einer Familie, die aufgegeben hat. Die Karriere der Mama war vorbei, der Sohn hatte keinerlei Ambitionen… und dann diese Eskalation. Sicher, er war frustriert, unfickbar frustriert und sie hatte sich ihm zwei ganze Male ihm „hingegeben“, wie es so schön heißt, aber nichtsdestotrotz, nun, mit genug Übung, 15 kg weniger unter der Haut und viel mehr selbstständigem Denken wäre was aus ihm geworden. Vermutlich war der Vater, den die Mutter bis zu ihrem gurgelnden Ende verschwiegen hatte, der Attraktive gewesen, Mama war auch im Film vor 40 Jahren eine Nebenrollenperson, die es nur geschafft hätte, wenn der Regisseur kein Amateur gewesen wäre. Oder wenigstens ein Vierteltausendstel Fassbinder.
Irgendwann einmal würde irgendjemand, irgendein halbgenialer Autor auf die Idee kommen, ihrem Leben ein literarisches Erbe zu setzen, die Biografie einer Person, die nie wirklich existiert hat. Natürlich würde dieser Mann (Frauen schreiben ungern über die präzise Unvernunft der Auslöschung von Leben) sie zu einem Mann machen, ihr einen Namen wie Anton oder Werner oder sogar Daniel geben, ein übersehbares Gesicht, vielleicht einen Schmerbauch, Brille, Hosenträger und die völlig grundlose Basisüberzeugung, dass das Leben ein Kreislauf aus Schlaf und Krieg ist. Männer können nicht über Frauen schreiben, ihre Möglichkeit ist zu begrenzt, ausgehend von Worten und Gesichtern, die wir ihnen entgegenwerfen, unsere Masken. Viola lächelt. „Trink einen. Siehst du das Einkaufszentrum. Gehe in die Bar im untersten Stockwerk. Trinke. Telefoniere. Warte. Folge dem Plan.“ sagt die Stimme in ihrem Kopf. Sie hat Lust auf einen Bourbon, einen Pennypackers, pur, ohne Ablenkung. Mord macht durstig auf Leben.
Es könnte Abend werden, bald hoffentlich, aber die Leute sind noch immer so gut oder schlecht drauf wie sie es an einem Montag sein können. Viola versucht, von Achims Gesicht wegzukommen, ihre Augen starren auf das blassbraune Getränk, das man ihr gegeben hat, das nur Anleihen von Whisky besitzt, ein Cocktail, Happy Hour um diese Zeit. Es muss wohl um 5 oder um halb 6 sein. Sie hat kein Handy dabei, hat nur eine Nummer auf einem Zettel, der in ihrer Handtasche steckt neben der Packung Zigaretten und einem Feuerzeug: Ihre Handtasche ist das Gegenstück zum Klischee einer überfüllten Frauentasche, in deren Tiefen manch einer den Heiligen Gral oder das Bernsteinzimmer vermutet. Sie lacht in sich hinein. Für ein paar Augenblicke ist Achim vergessen und die Gesichter der Leute, die an der Bar sitzen, wirken nicht mehr so fern oder verschwommen wie vor Augenblicken noch. Sie kippt den Drink runter und bestellt noch einen. Der Barkeeper schüttelt vorsichtig den Kopf, als sie ihm mitteilt: „Mehr Alk, weniger Drumrum“. Er lächelt, als sie ihm einen Zehner rüberschiebt. Natürlich mag er das, jeder mag das. Wir alle sind Nutten, zumindest geistige. Das nächste Glas kommt schon mehr in Richtung Ethanol als die Wasserbomben der letzten Stunde. Es gibt keine Uhr, keine echte Zeit, nur Menschen, die kommen und gehen. Alles Alkis, sagt sie sich, mehr oder weniger und wenns kein Alk ist, dann halt ne andere Sucht, was weiß ich…
Sie steht auf und geht zu einem Telefon in der Ecke. Sie ist nur in der Bar, weil die noch sowas haben, ein lokalisiertes Telefon für alle, die sich der Diktatur der Dauererreichbarkeit entzogen haben, eine Art Oase der Sinnlosigkeit in einer Welt, die süchtig… wieder die Sucht, jedenfalls süchtig nach Verbindung, nach „Konnektionen“ ist, ein großes Netzwerk von Bedürfnissen, die wie ein Schleimpilz sind, ein feuchtklebrig-ekelhaftes Stück brodelnder Widerwärtigkeit.
„Ja“ sagt eine Stimme, weder Mann noch Frau, vermutlich Frau. „Die Veilchen sind rot“ sagt sie. Klingt wie in einem 70er Jahre Agentenfilm. Nicht alles, was damals schon Klischee war, ist heute anders, aber Codes sind nunmal der kleinste gemeinsame Nenner einer Zelle von Leuten, die andere für Geld abschlachten. „Moment“. Es klickt, klingelt, klingelt lang, länger, hört gar nicht auf zu klingeln, dann ein Knacken. „Jo“ sagt Viola. „Fuck“ der Mann am anderen Ende knarzt. „Hast du geschlafen?“ fragt sie. „Hier in Tokio ist es sehr spät am Abend.“ „In Tokio schläft auch keine Sau.“ „Ich bin ja auch keine Sau.“ Beide lachen. „Die Explosion in Berlin, das warst du hoffentlich nicht…“ „Ich wäre aufgeflogen… der Typ was dumm genug, sich beim Einpissen auf offener Straße filmen zu lassen.“ „Ist das ein Fetisch von dir?“ fragt er. „Ja.“ Eiskalt. Er räuspert sich. „Und jetzt?“ fragt er. „Ich muss raus, aber bevor ich mich mal verziehe und in den ländlichen Gegenden, mein Gott, wem mach ich was vor… hast du zufälligerweise was zu tun? Wenn ich nix mache, werde ich noch zum Alki.“ „Bist du das nicht schon… okay…“ Er schweigt, sie hört, wie er aufsteht, seinen viel zu jungen Körper knirschend über einen dicken Teppich zerrt, der vermutlich in einem Hotelzimmer in einem viel zu teuren Hotel über den Dächern Tokios liegt, unter ihm die farbigen Wellen der Ampeln, der Menschen. Wäre sie nicht in Berlin, dann in Tokio. Aber die Sprache ist so verdammt schwer zu lernen und die Zeichen noch dazu. Das ist nicht der Weg des geringsten Widerstandes, das ist harte Arbeit. Keine Flexibilität, kein Schwimmen im Strom… besonders nicht als Gaijin-Lady.
„Jo“ sagt er. Sein Computer fährt hoch, die Festplatte röchelt, er tippt. „Ja, okay. Hier gibt es einen Menschen, der soll sterben. Berlin. Es wäre besser…“ er tippt wieder, tippt weiter und weiter, kommt nicht Wort… „hmm“ sagt er schließlich, „hmm hmm, hmm“ er tippt weiter. „Ja?“ fragt sie. Da ist es, das Gefühl im Magen, als würde sich der Kopf aus dem Körper zurückziehen, genau dorthin, wo niemals die Sonne scheinen wird. Noch einen Drink. Sie blickt auf, der Barkeeper ist verschwunden, eine Frau steht stattdessen herum und betrachtet die Feierabendtrinker mit gelangweiltem Blick. Sie trifft Violas Gesicht für einige winzige Augenblicke, nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann schaut wie weg, als würde sie nicht auffallen wollen. „Steh ich auf der Liste?“ fragt sie, während ihr das Eis die Füße unter dem Körper wegzieht. „Du warst zu spät, Schatz“ sagt er, „Sie haben dein Bild aufgenommen, als du aus dem Haus gekommen bist. Die Explosion hat das BKA und die anderen Regierungstypen aufschrecken lassen. Heutzutage ist ja alles ein Terrorakt.“ „Hey“ brüllt ein Mann neben ihr, sie wirbelt herum, sein Gesicht ist rot und verschwitzt. „Nur einen Kuss“ sabbert er, drecks Alki. „Verpiss dich!“ zischt sie ihn an, schubst ihn zurück, er taumelt gegen die Theke, wirft eine Bierflasche um. „Fick dich, Fotze!“ er würgt ein paar Wortfetzen raus. „Hallo?“ fragt sie „F1“, ihren Chef, ihren Teamleiter, ihren Agenten am Telefon. „Entweder du bist schnell raus aus Berlin oder du bist schnell… raus aus dem Leben. Lauf. Dreh dich nicht um… dein Tod ist Gold wert…“ Es klickt dumpf und das Echo verhallt langsam in der toten Leitung. Sie lässt den Hörer fallen. Kalte Panik, der Magen kotzt schon halb. „Klo?“ fragt sie die Barkeeperin, die deutet genervt auf ein Schild mit Frauensymbol auf der anderen Seite des Raums. „Danke“ murmelt Viola.
Sie würgt die Reste ihres Abendbrots ins Waschbecken, die Frau im roten Outfit neben ihr quietscht vor Ekel und stampft davon. Eine Putzfrau mit Eimer und Wagen kommt herangerollt. „Müssen Sie soviel trinken?“ Der Blick ihres Spiegelbildes erinnert Viola an ihre Mutter, die sich auch immer Sorgen gemacht hat. „Nein“ sagt sie, „aber ich will. Was geht Sie…“ Der Schlag mit dem Stiel ist schnell und die Reflexe unter Einfluss sind langsam, viel zu langsam und als sie zu Boden geht, merkt sie die blauen Überziehschuhe und die teure Strumpfhose, eine deutlich bessere Strumpfhose als sie heute weggeworfen hat. „Wie viel hat die gekosss…“ Ihr Hals wird von der Klinge aufgerissen, das Heulen ihrer Luftröhre erinnert sie an einen alten japanischen Samuraifilm, aber im Gegensatz zu den Wüstenbildern im finalen Kampf dieses Klassikers hat sie keine Worte parat, die in die Analen der Geschichte eingehen werden. Ein kurzer Griff in ihre Haare und ihre Stirn landet noch ein paarmal auf dem Waschbecken, aber sie bekommt nur die ersten zwei Mal mit, bevor sie nicht mehr existiert.