Dämon – Kapitel 2 – Jörg

Dämon – Kapitel 2 – Jörg


Egal, ob es nachts um 2 Uhr ist oder tagsüber, 12 Stunden zeitiger oder später, Langeweile bleibt Langeweile, auch wenn man draußen rumsteht, Hände voller Chemievanille in sich reinschaufelt und Leute um Akzeptanz oder zumindest um mehr als 2 Blicke anfleht, mehr als »Oh Gott« und »ne wirklich«. Jörg niest. Das Pulver ist wirklich viel zu fein, setzt sich in seine Fingerkuppen ab, bilden ein dreidimensionales Profil seiner Einzigartigkeit, die nur Bullen oder Forensiker erfassen können, nicht aber der Pöbel. »Selbst« sagt Jörg, meint, selbst ist der Pöbelmann.

Der schwärzere Rand seiner schwarzen Brille treibt einen Keil zwischen der losgelösten Welt und der flammenden Realität jenseits seiner Illusion, es wäre gar nicht so grell da draußen. Hier draußen, die Trennung ist nicht wirklich vorhanden, das warme Wetter hält nichts von der programmierten Kühle des Marktes und die Sonne, ja, die ist sowieso ein brennender Glutball und kein bewußtes Lebewesen, kein Gott. Götter kommen nur in der Nacht raus und tragen grellbunte Kleider, weil die 90er das letzte Jahrzehnt war, dass Jörg einen Gott, nein, eine Göttin getroffen hat.

Posh- oder »Oh my Gosh«-Spice, Victoria. Kühl wie eine Alabasterstatue, die wie ein 80er Jahre Film zum Leben erwachte, es gar nicht nötig hatte, zu singen, sondern einfach ihre Existenz auf die Bühne oder die Musikvideos werfen konnte, um angebetet zu werden. Sollten die anderen sich abrackern, sie hatte das nicht nötig. Doch seitdem ist das Leben eintönig geworden, die 2000er Jahre hatten Jörg in die Abhängigkeit von der Hilflosigkeit gestürzt, die Welt war 2001 zusammengebrochen, hatte sich teilweise wieder aufgerichtet, aber nur unter der dauernden stressigen Umsicht, jeder könnte ein Terrorist sein. Ein kleines Lächeln wäre nett, aber verwerflich unter der Verantwortung, die er seinem Leben aufdrückt. Gerade jetzt, wo er etwas gefunden hat, was ihm Sinn gibt, wenngleich kein Geld. Seine staubige Hand vergewissert sich, dass der Zettel noch immer in seiner Hosentasche steckt, direkt neben den Kopfhörern, einem Haufen Kleinstgeld und Schlüssel und Stift, als ob er, wie er im Film »Tintenherz« gesehen hat: Ein Autor muss immer Stift und Notizblock bei sich haben, immer. Auch für Autogramme.

Menschen wandern an ihm vorbei, sind nur farbige Schatten ohne echte Abgrenzung zu seiner miesen Laune. Gerechtfertigt. Sein letzter Blick auf die Uhr war vor einer gefühlten Ewigkeit, aber schlimme Erinnerungen aus seinen späten Zwanzigern pumpen jede Verzögerung, jede Unpünktlichkeit auf, bis sie seinen Kopf vollständig ausfüllen. Lautes Krachen im Hintergrund, er dreht seinen Kopf. Eine Frau mit Kinderwagen und Baby auf der Brust verlässt zeternd den Markt, sie ist ihm schon vorher aufgefallen, weil der Kopf des Kinds aus irgendeinem Grund verquer wirkte, unnatürlich… wie soll er sagen… es fällt ihm noch immer kein Wort ein. Die Rollen knallen über die Kante auf den Gehweg, die Frau rutscht fast weg, beherrscht sich aber noch. Gläschen klirren, schwingen. Ein paar Leute schauen auf, zu wenige, um das Bild der herausfallenden transparenten Körper in das kollektive Unterbewußtsein aufzunehmen. Die Frau schiebt ihren Wagen zur Ampel, glücklicherweise grün und prescht voran. Jörgs Augen starren ihr nach. Ihre Füße knallen auf den Teer, der rot aufflammt und Finger aus der Hölle beschwört, die nach ihr und dem Kind greifen. Nur eine Illusion, versichert sich Jörg, eine seiner Eskalationen, die zur Zeit schlimmer werden, wie ein Blitz in der Nacht, fast schon gewöhnlich. Trotzdem löst sich sein Rücken vom Ladenfenster, er wandert, wie getragen, nur ein paar Schritte nach links, sein Gesicht folgt ihrer Bewegung.

»jo« sagt eine Stimme in Kleinbuchstaben, ein Basecap, korrekt auf der Stirn platziert, über einem Büschel an Resthaaren, eine Sonnenbrille Marke irgendwas und das ist vollkommen unwichtig, denn die Frau rast gerade mit dem Wagen an einen Laternenpfahl und kotzt, nicht im hohen Bogen wie in einem Horrorfilm, nein, es kommt in Wellen, eine undefinierbare Masse, die sich über den Kopf des Kindes vor ihr ergießt. Jörg fühlt sich sonderbar fremd an, als ob er einen Film sähe oder die Szene in einer Kurzgeschichte überstehen müsse, um eine große Lehre zu ziehen, eine moralische Stütze, die vollkommen sinnfrei ist, spätestens seit den 80er Jahren, die er leider nur so nebenbei erlebt hat.

Das Kind brüllt nicht, selbst der Straßenverkehr scheint gelähmt zu sein, als die Frau das Halfter löst, das sie mit dem kleinen Körper verbindet, dann schüttelt ihn, wobei die sumpfartige Flüssigkeit umherfliegt, dann lässt sie das Baby fallen. Leute kreischen. Ein junger Mann in weißfleckiger Latzhose rennt auf sie zu, stößt sie zurück, wobei sie sich am Laternenmast festhalten kann und hebt das Kind auf. »Eine Puppe« kreischt er, Jörg hört ihn klar und deutlich, »sie hat eine Puppe!«

»Jo, Lars«. Der Junge grinst. Junge. Pah. »Jo?« fragt Jörg, »Ist das ne Abkürzung für mich oder hast du wieder böse Musik gehört?« »Hey, geh mal locker.« Jörg würde lächeln, wenn er könnte, dann würde er sich übergeben. Zuviel Empathie, sagen die Leute, fremdschämen und fremdwürgen, zuviel Hineinversetzen in andere, in ihre genervten Stimmen oder Blicke, in augenscheinlich sinnlose Emotionen für einen Soziopathen oder für Lars. »Magst du meine Brille?« »Gekauft?« »Natürlich.« »Teuer?« »Natürlich ist sie das, hör mal. Was ist das mit dir und diesem Zeug?« Jörg folgt bis zum Proteineimer, der halbleer ist. »Bulking« »Für was denn? Drehste nen Porno oder wie?« Über solche Dinge sollte der Junge nicht lachen. Irgendwann wird auch er in die Versuchung kommen, menschlichen Bedürfnissen Geld abzuverlangen. »Ich hatte nur Hunger. Also.«

»Gehn wir was richtig essen? Ich verhunger hier, während du deinen Körper mit köstlichen Nahrungsersatzprodukten quälst. Ich kenne da einen Dönerladen, der ist so perfekt…« Lars stampft davon. »Fuck it« Der Eimer fällt zu Boden, eine körnige Wolke entflieht, Spucke-Pulver-Klumpen schaffen es nicht über den Rand. Interessiert keine Sau.

Der Dönerladen ist wirklich gut und auch wenn Jörg es sich erst nicht eingesteht, er hat Hunger. Weiß der Geyer, was ihn dazu getrieben hat,… ach, er weiß es selbst. »Inszenierung ist ein Teufelswerk« belehrt er Lars, dem ein Stück Fleisch aus dem Mundwinkel fällt, »Proteinpulver und anderes Zeug sagt dem normalen Menschen, dass man zielorientiert ist, kompromislos, hart. Normales essen ist für einfache Leute. Wissenschaft ist für Pro.« »DU? Du bist kein Pro. Du bist nur ein Künstler.« »Mit Dank angenommen« lehnt sich Jörg zurück, betrachtet seine Bissspuren, »aber Geld macht man nur mit Eindruck. Oder harter und gleichbleibender Arbeit. »Napalm über dem Mandelwäldchen« bringt keine Filmförderung. Ich könnte nen Kickstarter anfangen, aber der würde ins Leere laufen, dafür ist mein Name zu unbekannt und hier« er klopft auf seine Brusttasche, in der sein Smartphone lauert, »ist der einzige Beweis, dass der Film in irgendeiner Art und Weise existiert.« »Leute brauchen Werbung, um zu wissen, dass etwas existiert. Könnte alles Einbildung sein oder schlimmer,« Lars starrt auf den Eingang des Restaurants, in dem sich Leute stapeln, Hunger in den Augen, der fast schon sexuelle Züge trägt, die nur schnell was kaufen wollen, dann davoneilen werden, in ihre allzusicheren Wohnungen. »Schlimmer?« fragt Jörg. »Risiko. Nichts ist schlimmer als Risiko. Selbst wenn es eine kranke Idee wäre, die Leute würden sie lieber akzeptieren, als ob sie echt und riskant wäre. Deshalb habe ich auch keine Kinder.« »Du hast nichtmal ne Freundin, Alter.« »Risiko, einfach zuviel Risiko.« Die 0,5 Liter Colaflasche ist halbleer, Fetzen von Salat und Fleisch schwimmen darin herum, gären, versuchen in der Kürze der Zeit eine stabile Basis für Aminosäuren und damit für Leben zu erzeugen, eine Ursuppe, in der unzählige winzige Augen hoffnungsvoll hinaufstarren in den Pantheon der unbekannten Götter. Dann zerschmelzen sie in der kraftvollen Kohlensäure, die Jörg zu einem lauten Rülpsen verleitet. Er hebt seine Arme und verneigt sich vor dem imaginären Publikum. »Die Muse küsst den reichen Mann, der Zeit mitbringt. Oh Muse, der du mein Augenlicht bist, reiche mir den magischen Stift, der das eine Drehbuch schreibt, das mich jeden Tag dazu bringt, Schecks unterzeichnen zu dürfen. Oh Muse«, er verzieht sein Gesicht. »… bei Gott, wenn ich wüsste, wie ich dich anrufe, dich in diese Welt bringe. Nein… reich muss man sein. Hast du wenigstens ne Kamera bekommen?« Lars schüttelt den Kopf, ist nun völlig verwirrt »Handy-Kameras sind mistige Dinger, damit kann man doch keinen Film drehen.« »Vermutlich unsere einzige Alternative. Wie willst du Leute ranbekommen, die den Rest machen, Schauspieler zum Beispiel?«

Wie lang hängt Jörg schon an dem Gedanken, am Skript, am Bild und Ton, so dass er glaubte, dass nur ein einziger Schritt notwendig sei, das große Werk in die Welt zu bringen? Die Fragen, die nun vor ihm auftauchen, sind unerwartet und gleichzeitig zeigen sie ihm seine Hilflosigkeit, mit der Realität zurechtzukommen. Gibt es nicht Bilder von ihm und seinen Stars? Gibt es nicht Aufzeichnungen seiner Entscheidungen? Drehorte und Melodien aus dem Soundtrack schwimmen durch seine Erinnerungen; er braucht sie nur zu greifen, dann werden sie wahr, so wahr wie der Geschmack der Knoblauchsauce in seinem Mundwinkel, der die Vanillepulverspuren überdeckt hat wie Schlaf den Alptraum des vergangenen Tages.

Draußen zieht eine Herde Kinder vorbei, Wandertag oder einfach nur getrieben vom Ergeiz der Lehrerinnen, die an Front und Ende jeweils Abschlüsse bilden, ein paar Kubikmeter Hoffnung für die Welt, die ihre Freude hinauslärmen, bis es Jörg zuviel wird. Er starrt auf den Boden, versucht, sich in den Fliesen zu versenken, bis die Linien beginnen, sich aufzulösen, kriecht in das Muster hinen, verschmilzt mit der Keramik. »Hey« schnipst Lars. »Ich kann den Lärm nicht ertragen« hört sich Jörg sagen. »Dann bist du in der falschen City… versuchs auf Dorf.« Was soll Jörg sagen? Ja, du hast Recht, ich gehöre nicht hierher? Ich schätze Berlin wegen seiner Möglichkeiten, nicht wegen seiner Leute? »Filmleute leben nur auf dem Dorf, wenn sie Frieden wollen, keine Filme.« »Und deshalb sitzen wir hier?« Schultern zucken. »Ziehen wir ne Linie über all dem Blah und unter dem »der nächste Schritt lautet.« Wie lautet der nächste Schritt?« »Geld.« sagt Jörg, »wir brauchen Geld.« »Und wie kommt man daran?« Lars verschränkt die Arme über dem Helden-T-Shirt, V-Neck, der Versuch, stark zu wirken trotz einer Körpergröße von 1,94m und einem Körpergewicht von, Jörg vermutet, lediglich 62 kg. »Legal oder illegal?« fragt Jörg. Lars wird bleich. »Was?« zischt er. Jörg lässt seine Hand über den Döner wandern, entscheidet sich, beißt ab, kaut, schluckt, lässt Lars warten. »Na komm schon« Blut traut sich noch immer nicht, am Hals seines Freundes hochzusteigen, »Alter!«

»Wenn ich Geld brauche und ich weiß, dass die ganze Scheiße echte Kohle bringt, dann geh ich den Weg, auch allein: Ich wurde als Herumtreiber geboren und das ist die einzige Straße, die ich kenne. Dass du jetzt dabei bist, hilft mir schon sehr, aber ich darf mir keine Illusionen machen: Wenn es keinen Weg gibt, die Sache mit Filmförderung, Kickstarter und anderen magischen Lösungen hinzukriegen… und Kickstarter bringt nichts, weil wir keine Leute sind, die so extrovertiert und begabt sind, ordentlich für uns zu werben… dann gibt’s nur einen Weg und der geht tief runter.« Lars schluckt. »Aber nicht…« Seine Handbewegungen bringen Jörg zum Lachen. »Alter nein. Nicht das… ernsthaft? Ich gehe davon aus, dass sich heute jemand bei mir meldet, der mir das Geld vorschießen kann, zumindest einen Teil davon, damit wir anfangen können, endlich was auf die Beine zu stellen.« Er kaut wieder am Döner, der nicht kleiner zu werden scheint, eine Mutation selbstheilender Fleischbrocken.

Die Kinder sind stehengeblieben, förmlich erstarrt, Panik zeichnet sich in ihren fernen Gesichtern ab. Hände umfassen andere Hände. Stille wird greifbar. Ein Schatten beugt sich in das Restaurant, ein Riese, nein, nein, nur ein Schatten. Der Rest des Körpers bleibt am Eingang stehen und schaut herein. Kälte wird lebendig und frisst seine Bahn bis in die hinterste Ecke. Seine Schritte sind bedächtig, fast schon träumerisch, Augenwinkel zucken hinter einen Brille, die scheinbar von eigener Kraft leuchtet.

»Ich wurde beauftragt, mit Ihnen zu sprechen.« seine Stimme erinnert an die Klinge einer Sense, dann zieht er einen Stuhl heran, keiner beschwert sich, alle schweigen. »Sie können gerne weitermachen« seine Stimme verhallt, sein Wunsch wird erfüllt. Die Welt dreht sich weiter. »Herr Bulagit und Herr Vantor, guten Tag. Nennen Sie mich Paul.« Er rückt seine Brille zurecht. »Unabhängig vom Aufsehen, dass Sie an den Tag legen, mich hier in dieser… Öffentlichkeit zu treffen, haben Sie hoffentlich keine Angst, dass ich sie umbringe oder Ihnen eine Niere stehle.« Sein Kichern ist heiser, doch Jörg und Lars lachen nicht mit ihm. »Zum Geschäft. Sicher.« Er stellt seine Aktentasche auf den Tisch, zieht einen Ordner heraus, legt ihn vorsichtig hin. Der Ordner ist dunkelblau, erinnert an die DDR, irgendwie jedenfalls.

»Sie brauchen 250.000 Euro. Sie möchten einen Film drehen. Die Förderung steht aus, die letzten Reste Ihrer Ehre haben Sie auf dem Schlachtfeld der Vernunft gelassen. Ich verstehe das.« Er nimmt die Brille ab. »Nicht wenige Leute träumen von der großen Karriere, vom magischen Klick, der die Bevölkerung für einen einnimmt. Sehen Sie, ich bin ein großer Bewunderer von Murnau und von Lang und Haneke, präzise Regisseure, die sich darum gekümmert haben, dass der deutschsprachige Film nicht untergeht. Leider gibt es genug… Dilettanten, die offenkundig keine Ahnung haben, sich selbst zu verwirklichen, die nur der Masse folgen.« Er lächelt. Seine Mundwinkel brechen kurz aus.

»Herr…. Paul« stammelt Jörg, »vielen Dank…« Der Mann namens Paul hebt seine Hand, filigrane Finger strecken sich in die Luft, zwei Ringe blitzen auf, »Ich verstehe, dass Sie aufgeregt sind. Das müssen Sie nicht sein, wenn Sie unsere Abmachungen einhalten.« Er schiebt ihm den Ordner zu. »Unsere Unterlagen. Bitte.« Jörg öffnet ihn, Schreibmaschinenseiten auf nikotingelbem Papier. Er blickt auf. »Was…?« »Unsere Auswahl an Papier und die Möglichkeiten, Texte über Computer auszuspäen, wenn man sie nutzt, sind Sie nicht auch der Meinung, dass Offline das bessere Mittel für unsere Geschäfte sind? Achten Sie nicht auf das Medium, achten Sie auf den Inhalt. Sie sind doch Filmemacher? Was ist ein Film ohne Bilder und Bedeutung?«

Eine Viertelstunde später hebt Jörg seinen Blick. Sein Verstand scheint um Jahre gealtert zu sein, es fühlt sich an, als hätte er verschlafen. Worte kommen und gehen, prasseln aneinander, zerren an seinem Geist. Sein Gegenüber lächelt wieder. »Ver… standen?« Jörg nickt. Der Mann, dem man den Namen Paul nicht abnimmt, zieht einen Füllfederhalter aus seiner Jacke. »Bitte 2 Mal unterschreiben.« »Hey« Lars packt Jörgs Arm, »bist du auch ganz sicher…« »Ja.« Jörg schüttelt seinen Freund, seinen besten Freund seit fast 30 Jahren, ab und lässt blaues Blut auf die Linie unter dem Text fließen, fühlt, wie seine Seele verlorengeht im Aufschlag der Erkenntnis, ein Monster zu sein. »Tu es jetzt!« Eine ferne Stimme schickt sich an, in diese Dimension zu treten, ein Dämon, der die Zukunft beherrscht.

Ein dicker weißer Briefumschlag ersetzt den Ordner, der wieder in der Aktentasche landet. »Herr Bulagit, die Anzahlung.« Paul reicht ihm die Hand. Sie ist warm, fast schon lebendig. Lars wird erst beachtet, als der Fremde aufsteht und ihm zunickt. »Wir sehen uns bald wieder, Herr Vantor. Guten Tag.«

»Wie meint er das?« fragt Lars, als die Gefahr vorüber ist. »Ich weiß nicht.« antwortet Jörg, »vermutlich nur ein Scherz.« »Was stand in dem Vertrag?« »Das übliche Kreditzeug halt.« »So üblich wie ein Briefumschlag voller Geld.« »Hmm«, nickt Jörg. »Alter, ganz ehrlich, was hast du getan?« Das Schweigen fühlt sich einen Hauch zu lang an. »Ich habe getan, was notwendig ist, um meinen Film zu drehen.« »Alter« ein Faust knallt auf den Tisch, »was zur Hölle hast du gemacht?« Jörg steht auf, sein Blick dringt in die Ferne, durch die nahen Wände mit ihren vorgefertigten Visionen von gesundem Fastfood, auf ein Ziel zu, das nicht in dieser Welt ist. Der Briefumschlag knistert in seiner Hand, spricht mit ihm, lässt seinen Kopf schwanken zwischen Erlösung und Tod, nein, Tod nicht, eine Vision panischer Erkenntnis. Schweiß prickelt auf dem Papier. Er dreht sich um zu Lars, lächelt. »Wir sehen uns. Ich habe… Dinge zu tun.« »Hey« Lars packt seine Hand, zerrt sich an ihr hoch. »Werden Sie dich umbringen, wenn du nicht zahlst oder was?« »Ich… nein… ich.« Er atmet schwer, hält sich an der Schulter seines Freundes fest, als die Schwäche kommt. »Nein. Das ist es nicht. Aber… ich muss mich an den Vertrag halten. Ich kann dir nichts, darf… nichts sagen. Wir sehen uns…«

Er schwankt aus dem Restaurant, ein Untoter, der das erste Mal seit Jahrhunderten Licht und Wärme erlebt, Sinneserfahrungen, die sein schlummerndes Hirn nicht mehr verarbeiten können. Erst die Frage, wo der Briefumschlag ist, in dem die Zukunft lauert, lässt ihn aufmerken. Verdammt, wo ist… linke Hand. Sein Unterkiefer schmerzt. Ein offener Becher Kaffee wirft die Echos der Sonnenstrahlen auf sein Gesichter, lassen es flimmern. Autos hupen an der nahen Ampel. Ein metallic blaues Cabrio Marke Golf II lässt sein Autoradio aufheulen, ein altes Lied schwebt über dem Chaos davon, unaufhaltsam wie die Zeit, die in Jörgs Kopf tickt. Ist das Geld noch da? Ja. Ja. JA! Nicht aus dem Kopf lassen. Davon gehen und nichts tun, das auffällt, nichts tun, was dem Ziel schadet. Vergangen ist vergangen. In seinem Kopf schreit er, weint er, bettelt er. Sein Gesicht ist eine Maske aus Wachs. Jetzt den Drehort sichern. Leute beauftragen. Er berührt sein Handy, sein Karte in eine Welt, die er nur vom Hörensagen kennt, deren Schlüssel in Papierform in seiner Hand liegt. Wenn er durch diese Tür gegangen ist, wird keine Kraft ihn zurückholen können. Sein Kichern erinnert an die letzte Stufe einer tödlichen Krankheit und ist doch nur dessen erstes Symptom.

Die Musik verstummt. Jörg hebt seinen Blick. Das Profil des Mannes, der sich Paul nennt, hängt zwischem dem heruntergelassenen Verdeck und dem Überrollbügel des Autos, dann dreht er seinen Blick. Der Motor heult auf, als die Ampel sich bequemt, auf Grün umzustellen und endlich ist der Bote fort, nicht ohne ein Grinsen zu hinterlassen, das noch Minuten braucht, um sich aufzulösen.



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