Hayes – Kristallwesen
Die Höhle hing an der Felswand wie der zahnlose Mund eines schlafenden Riesen. Tief im Innern würde man Steine finden, die von der Decke zu Boden und zurück ragen würden. Dennoch waren sie nich die einzigen Dinge, die Hayes dort erwartete.
Sie blickte sich um, betrachtete die Landschaft hinter ihrem Rücken. Die Wälder, dicke Tannen, umhüllt vom fetten Gestrüpp eines langen und feuchten Sommers, schwankten in der sanften Brise eines späten Herbstes umher. Ihr Pferd wieherte vorsichtig, als sie abstieg. Ihre Stiefel kratzten den Sand aus den tiefen Rillen des Pfades, der vor ihr lag, der nun viel zu schmal war für das Pferd, das sie vor zwei Tagen in Glemens gekauft hatte, eine Märe mit dem Namen »Hildegard«.
»Wie meine Schwiegermutter«, hatte der Wirt gesagt und dabei leise gelacht. Dann hatte er aufgehört zu lachen und Hayes angeschaut, als würde er nicht verstehen, wieso sie das Tier brauchte.
»Es ist alt – und alte Leute und alte Pferde überleben mehr als junge Leute.«
Der Wirt hatte genickt und grummelnd zugesagt, dass Hildegard in einigen Stunden fertig sei – »Sie braucht ihre Zeit.«
Und nun, zwei Stunden vor dem Ziel, musste Hayes absteigen. Der Pfad war, wie schon gesagt, recht schmal, aber das Pferd musste dennoch mitkommen. Es war wichtig. Etwas lauerte in der Höhle.
Vor einer Woche war man an sie herangetreten, in einer dieser Kneipen, die nur dazu da waren, Aufträge zu erhalten – oder sich sinnlos zu betrinken. Ein Rudel grünäugiger Wölfe hatte die Menschen um Liserg für Monate in Atem gehalten – ein Zeichen der alten Magie. Irgendetwas hatte sie beschworen und Hayes hatte sich darum gekümmert. Der Mann, der in den Tiefen des Kessels von Rumbrak gehaust hatte, hatte sich lange gewehrt, hatte den grün-glitzernden Edelstein bis zum letzten Augenblick in seinen Händen gehalten, während die Wölfe seinem Befehl gefolgt waren. Welle um Welle war der Klinge zum Opfer gefallen, Kopf um Kopf war zu Boden gerollt – doch die Magie hatte gewonnen, hatte den Körper des Mannes langsam aufgesaugt und die Hülle verbrannt, bis die Schmerzen die Kraft überwältigt hatten und der Kristall endlich zu Boden gefallen und erloschen war. Dann erst waren die Wölfe aus dem Traum der Jagd erwacht und hatten sich winselnd zurückgezogen, nicht ohne vorher das Fleisch des Toten von seinen Knochen zu reißen, aus Rache oder Wut. Das war auch egal.
Der Auftrag hatte einige Drakmen eingebracht und musste nun verbrannt werden – in jener Kneipe, in der sie den neuen Auftrag erhalten hatte. Eine Kreatur sollte in der Höhle hausen, ein Mensch ohne Menschenkopf. »So groß wie zwei Menschen und so schwer wie ein Bär!«
Und nun stand sie hier, kaum eine halbe Stunde vor dem Ziel entfernt. Sie ging in die Knie und betrachtete den Boden, die Pflanzen, die am Rande des Pfads hingen. Sie trugen den grimmigen Geruch einer alten Kreatur in sich, älter als so mancher Mensch, rochen nach Pisse und Blut. Sie stand auf und blickte sich um. Die Höhle schien größer geworden zu sein, als wäre sie tatsächlich ein Mund, durchbrochen vom Atem aus der Tiefe. Sie zerrte ihre Klinge aus der Tasche, die am Sattel hing und ließ sie einmal, zweimal durch die Luft sausen. Das Metall summte ein altes Lied, vibrierte leise, als würde sie Blut schmecken. Hayes packte die Zügel mit ihrer rechten Hand und wanderte vorsichtig den Pfad hinauf.
Magie kroch an den Wänden der Höhle entlang, verwandelte die Finsternis in eine blau-glimmende Dämmerung. Das war nicht die übliche Magie, die aus dem Innern der Erde stammte, aus dem Leben der Menschen und Tiere und Pflanzen, dies war eine andere Art, eine von den Sternen, aus der Tiefe der Nacht. Hayes hörte sich selbst atmen, tausendfach verstärkt durch die unendlichen Kanten und Ecken, die bis in die Tiefe reichten. Das Pferd schnaubte. Weiß-blauer Dampf kroch durch die Nacht.
Hayes schloss die Augen, öffnete ihren Geist. Die Welt erlosch. Eiseskälte legte sich auf ihre Gedanken, verschob sie, bis es klickte. Sie konnte das Wesen sehen, so wie ein Hai sein Opfer sieht, ein Tiger, ein Wolf … sie konnte fühlen, was nicht existierte, um zu wissen, was existierte.
Ein Schatten schob sich in den unmöglichen Raum. Die Leute in der Kneipe hatten Recht gehabt – und dennoch hatten sie untertrieben. Sie wirbelte herum. Die Kreatur schwieg lauter als sie hätte schreien können. Es war ein Bär, fast dreimal so groß wie Hayes, aber sein Kopf war nicht real, war ein kreischender Kristall, ein Stein, der sich tief in dessen Hals geschoben hatte, bis das, was von dem Tier geblieben war, nur noch Schmerz und Terror war. Hayes hätte gerne überlegt, wie das Monster geschaffen worden war – war der Stein vom Himmel gefallen oder das Tier beim Sturz in die Tiefe in einem der Kristalle gelandet? – aber die Kreatur war schneller als jeder Gedanke. Seine langen Arme peitschten nach vorn, versuchten, sie zu zerquetschen. Sie tauchte unter dem Schlag hinweg, hob ihr Schwert und streifte mit der Klinge beide Pfoten. Schwarzes, stinkendes Blut schoss aus den Wunden, die sich jedoch nach Augenblicken wieder schlossen. Ein Maul öffnete sich dort, wo sonst der Hals in den Körper überging. Eine schwarze Zunge rollte in die Freiheit, peitschte umher, suchte nach einem Opfer.
»Magie«, zischte Hayes und schlug zu. Beide Pfoten rollten über den Boden, blieben liegen, verdorrten nach Augenblicken. Hayes lächelte, merkte jedoch, dass die Kreatur, statt zu fliehen, tobte. Die Stümpfe an ihren Armen brodelte. Filigrane Fäden rollten aus der Tiefe des Fleischs und formten nach einer Handvoll Sekunden neue Tatzen, diesmal mit noch längeren Klauen. Dann schlug die Kreatur wieder zu. Hayes rollte davon, schlug zu, hinterließ tiefe Schnitte in Armen und Beinen des Monsters, trieb ihr Schwert in Dutzend Mal in die Brust des Wesens, das stets nur Momente verweilte, um sich neu zu heilen. Der Kristall war mächtiger als jede andere Magie, der Hayes in ihren Jahren begegnet war – und die Klinge hinterließ nicht einmal Scharten, geschweige denn Risse in dieser glitzernden Bösartigkeit.
Als letztes Mittel hob sie beide Hände und webte einen Riss in die Wirklichkeit. Magie schoss aus der Tiefe hinter der Realität. Licht, greller als die Sonne, schoss durch die Finsternis, traf die Kreatur. Fell verbrannte innerhalb von Augenblicken, Fleisch kochte, fiel von den Knochen. Da war der Schädel also, tief in den brodelnden Eingeweiden eingebettet, von dem Kristall hineingepresst worden. Das Licht erlosch, die Kreatur fiel vorüber. Hayes trat näher heran, betrachtete den fremden blau glänzenden Stein. Doch bereits jetzt begann die fremde Macht wieder zu arbeiten, legte Fäden aus, die sich in wenigen Minuten in frisches Fleisch und blutige Wut verwandeln würden. Sie versuchte, den Kristall aus seiner Wiege zu zerren, hieb durch Knochen und Sehnen, die sich immer wieder neu bildeten. Müdigkeit überrollte sie, doch sie kämpfte dagegen an, kämpfte gegen den Verlust ihres Lebens, gegen das Aufgeben an sich, gegen … Magie, so sinnlos es auch schien.
Wie von einem unsichtbaren Puppenspieler gezogen, erhob sich die halbfertige Kreatur. Fleisch wucherte über die geschändeten Knochen, erschuf Organe, schloss Löcher, formte Arme und Beine.
Die Kreatur schrie, flehte um Gnade, flehte um den Tod. Hayes konnte nicht anders, sie musste einen neuen Plan erschaffen, musste andere Magie finden, um dieses Monster zu vernichten. Sie taumelte zum Ausgang der Höhle. Hildegard wieherte, als sie den Geruch von Blut und Verdammnis wahrnahm. Hayes taumelte vorwärts, musste den Sattel erreichen, doch die Kreatur war schneller.
Das Pferd schlug aus. Sein Hinterbeine schossen durch die Luft, die beiden Hufen trafen die Kreatur, ein Huf den Kristall, der mit lautem Knirschen antwortete. Das Wesen taumelte davon, rammte einen Stein, der ähnlich einem Zahn aus dem Boden gewachsen war, stolperte und fiel zu Boden. Der Kristall kreischte. Neue Risse bildeten sich. Hayes fühlte neue Kraft aufsteigen. Sie schlurfte einige Schritte, hob ihr Schwert, betete zu einem der unbekannten Götter, an die sie sowieso nie glaubte und schlug zu. Der Kristall zerbarst, verstreute sich auf dem Höhlenboden, schmolzen dahin wie altes Eis an einem frühen Frühlingstag, leuchtete noch einmal auf und erlosch.
Hayes betrachtete die tote Kreatur, deren Fleisch innerhalb weniger Minuten ihre Festigkeit verlor und zerfiel wie in einem dieser Märchen, in denen Zeit viel zu schnell vergeht. Sie lächelte bitter und drehte sich um.
Hildegard betrachtete sie und nickte ihr zu. Hayes nickte zurück, nahm die Zügel und führte das Pferd den Pfad hinunter. Ein einsames Glimmern von Blau rollte durch die Höhle hinter ihr und verlor sich im Schatten der Dämmerung eines sterbenden Tages.