Hayes – Der Pfad der Toten – Kapitel 3

Hayes – Der Pfad der Toten – Kapitel 3

Das Rauschen der Bäume hüllte sie ein. Schatten krochen über ihre Haut, der Wind murmelte hier stiller als draußen, in der Ebene, in der Blumenebene. Hier wirkten andere Kräfte. Das einsame Hacken eines Spechtes teilte die Einsamkeit. Der Weg war von alten Nadeln bedeckt, knirschte bei jedem Schritt.
Hayes war abgestiegen, führte ihr Pferd am Zügel. Ihre Augen sprangen von Busch zu Busch, von Baumstamm zu Baumstamm. Diese kleine Welt war ruhig, zu ruhig.
Weder hatte sie Menschen gesehen noch andere Tiere. Selbst die Vögel hatten sich versteckt. Nur der Weg existierte.
Irgendwo in der Ferne schien eine Lichtung zu liegen, doch das hatte sie schon vor Stunden gesagt, war immer wieder enttäuscht worden. Sicher, der Wald trug kahle Felder in sich, Felder, die vermutlich vor Jahrzehnten angelegt worden waren, doch nun nur noch dem Gras und den Steinen eine Fläche bot, sich auszubreiten. Steine gab es hier genug. Einzelne halb zugeschüttete Löcher zeugten von Versuchen des Bergbaus, vielleicht sogar erfolgreich für lange Jahre. Doch nun sahen die Stätten verlassen aus. Baumstämme ragten schräg in den Himmel hinauf, warfen Schatten wie Sonnenuhren. Sie waren nicht natürlich gewachsen, jemand hatte sie hergebracht, in den Boden gerammt, hatte sie genutzt, um die Tiefen zu erforschen. Ja, selbst aus dem Augenwinkel heraus konnte Hayes erkennen, dass Menschenhand hier tätig gewesen war.
Doch nun war alles leer, die Welt einsam.

Doch das Licht, das Hayes erblickte, schien wirklicher zu sein als die verlorenen Versprechen der einsamen Welt. Im Licht bewegte sich etwas. Strukturen bauten sich langsam auf, wurden wirklicher mit jedem Schritt und als Hayes die von Sonnenlicht bestrahlten Bäume verließ, wurde das Leben … lebendig.
Bunte Häuser, die sich zumindest von den üblichen Häusern der anderen Gegenden, die Hayes besucht hatte, absetzten, lächelten sie an. Rote und grüne Wände, bedeckt von goldenem Stroh, beleuchteten die Welt. Tiere zischten eilig zwischen den Häusern entlang. Hunde spielten miteinander. Das Klappern von Hammer auf Amboss legte sich auf ihr Ohr. Irgendwo im Hintergrund drehten die Segel eine Windmühle ihren endlosen Kreise. Alles wirkte grandios, doch das Gefühl blieb, das Gefühl, dass alles einen Hauch neben der Spur war.
Hayes entschied sich nach einigen Augenblicken, die Leute sehen zu wollen.
Eine wilde Feier war im Gange, wenn sie im Gange gewesen wäre. Stattdessen sah man die Leute, die teilweise in bunter Kleidung – ähnlich ihrer Häuser – durch die Gegend rannten, ihr Hab und Gut auf Wagen packte und von ihren Gefährten und Gefährtinnen – Hayes war das eher gleich – gepiesackt wurden, sich doch zu beeilen. Ihre Sprache wirkte sonderbar alt, als wäre dies ein Buch und die Geschichten wären von verlebten Geschichtenerzählern erzählt worden. Kinder weinten. Kleider fielen in den Dreck, wurden aber selten aufgehoben. Manch einer zerrte eine hölzerne Truhe durch den Schlamm, in dem sich die Pferde erleichterten, genauso ängstliche wie alle hier. Eine einzelne Katze jaulte und knurrte, das Tier hing mit angelegten Ohren auf einem der Dächer, starrte in die Richtung der Windmühle. Selbst die Hunde waren panisch, packten ihre eigenen Schwänze, als könnten sie nicht begreifen, was passieren würde. Die Welt selbst sah normal aus, bis auf den Terror, der in den Gesichtern der Leute, Bauern und Kaufleuten herrschte, wirkte alles sommerlich schön.

»Verzeiht«, sprach Hayes einen der Männer an, der seinen Leib auf einen Kutschbock hinaufgezerrt hatte und dessen Hände die Peitsche hielten, als wäre sie ein Anker in einem Sturm.
»Was!?«, brüllte er, während er sich umblickte. »Wo verdammt noch einmal ist sie?«
»Wer?«, fragte Hayes.
»Mein Weib! Sie sollte … das Gold … die Kinder …«
Eine Person kroch aus der Tiefe eines der Häuser, aus der Finsternis hinter der aufgerissenen Tür. Sie zerrte zwei Kinder, vielleicht 8 oder 9 Jahre alt, auf die Straße.
»Die Kinder wollen nicht!«, schrie sie, »Nicht ohne …«
»Bei den Göttern. Bring sie her, verdammt nochmal!«
Die Kinder wehrten sich, doch die Frau, vermutlich seit langer Zeit die Herrin des Hauses, ließ ihre eisernen Hände nicht weich werden.
»Was ist hier los?«, fragte Hayes.
»Was los ist? Sie fragt, was los ist? Die Unterwelt!«
Die Frau des Hauses war stehengeblieben, atmete schwer, betrachtete den Neuankömmling mit zusammengepressten Augen. »Ihr seid zu spät, Kriegerin. Wir fliehen und Ihr solltet dies auch tun!«
Mehr konnte sie nicht sagen, denn die Pferde vor dem Wagen wieherten panisch auf und eine bizarre Gänsehaut legte sich über die Arme der Leute und ihre Körper schwankten, als wären sie alle – nur für einen Augenblick – von einem fernen Tanz besessen. Dann war alles vorbei, Augenblicke später nur, und Hayes war nur noch ein unsichtbarer Gast für das Dorfvolk und alle setzten sich in Bewegung, ungeordnet und panisch. Nur Minuten später war das Dorf verlassen. Ein einzelner Hund jagte seinen Schatten über die schlammige Fläche, die den Mittelpunkt des Dorfs bildete. Verschiedene Buden, behängt mit Blumen und Stroh, atmete ihre Einsamkeit in die Welt. Bierkrüge lagen auf aus dicken Eichenbrettern gezimmerten Tischen. Wein versickerte in der Erde. Ein totes Schwein verbrannte über einem Feuer, seine Knochen leuchteten schwarz. Hayes blickte sich um, doch sie war allein. Hunger machte sich breit. Der staubige Honig von der Wiese hatte einen Eindruck in ihrem Magen hinterlassen. Sie zerrte ihren Langdolch aus der Scheide. Die Zeichen im Metall blieben dumpf. Sie ging zum Schwein hinüber, hämmerte die Klinge mehrfach in das gegarte Fleisch, riss sich einen Brocken heraus, der so gut roch, dass sie ihm mit einem Biss verschlungen hätte.
Sie spuckte aus, betrachtete die Fasern des gebratenen Tieres, als würde sie darin etwas erkennen, doch es war perfekt. Es sah perfekt aus. Es roch perfekt. Doch der Geschmack glich dem des Honigs, nein, es war exakt der gleiche. Modriger Staub, durchzogen von Erinnerungen einer fernen Welt, anders konnte Hayes es nicht beschreiben. Sie drehte sich um, öffnete ihre Satteltasche und zerrte ein Stück getrockneten Fleisches heraus. Trotz des Alters schmeckte es im Gegensatz zu dem Essen hier wirklich, real, einfach echt. Sie wanderte zu einem der Tische, roch an einem Krug Wein. Der Geruch war auch hier fast schon heilig, aber auch hier spuckte sie aus. Essig und Galle krochen durch ihre Kehle und sie musste sich überwinden, sich nicht zu übergeben.

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