Das Meer im 3. Stock
Er erwachte vom einem einzelnen »Pling«, das in der sonst so stillen Wohnung wie ein Paukenschlag wirkte. Vermutlich hatte er es nur geträumt, so tief in seine Decke gewickelt wie nur irgend möglich. In diesen Stunden des Träumens von vergangenen Dingen war alles möglich. Auch ein »Pling«.
Es folgte ein weiteres. Dann ein drittes. Er schlug die Augen auf. Die Decke über ihm funkelte verwirrend grün, wie eine alte Bierflasche, nur viel fader, als wäre sie von langen Jahren Sonne ausgebleicht worden.
»Pling«
Er richtete sich auf. Sein Nacken schlug wieder zu. Feuer brannte seinen Rücken hinab und er musste ächzen. Für Fluchen war immer noch Zeit. War jemand eingebrochen? Er hatte doch an alles gedacht, um sicher zu sein. Aber …
»Pling«
Er senkte seinen Blick wieder und traf das Fenster, das sonst die Bäume vor dem Hochhaus zeigte, die Kronen jedenfalls, jetzt im Frühling, hier im 3. Stock. Statt dessen starrte er auf ein grünblaues Flimmern, hinter dem sich die Welt versteckte.
»Pling«
Nach einer gefühlten Ewigkeit rutschte er von der Matratze und setze seine Brille auf, die er nur einen Schritt weiter auf dem Tisch hatte liegen lassen. Endlich konnte er klar sehen. Es änderte nichts an dem, was hinter der Glasscheibe lauerte. Vorsichtig trat er näher heran. Seine Füße waren kalt und seine Beine zitterten. Näher und näher kroch er an das Fenster. Dahinter war nichts, nur eine dicke Masse, die sich wie Schleim bewegte, nein, wie, er konnte das Wort kaum aussprechen »Wasser«.
Aus der Ferne schoss etwas heran und knallte gegen die Scheibe, schüttelte sich, blickte ihn an. Ein Fisch. Ein Fisch? Hier? Alles wurde ihm klar. Er war im Wasser. Er schaute hinauf zum Himmel, doch da war keiner, nur ein paar ferne Lichtstrahlen, die sich durch die flüssigen Massen schoben. Unerreichbar war die Welt da oben. Er zitterte. Eine Träne löste sich.
»Pling«
Er schaute ihr nach, verlor sie aus den Augen. Etwas anderes hatte seinen Blick festgehalten. Der Topf mit den Orchideen war übergelaufen und um ihn herum hatte sich eine Pfütze gebildet und wenn man ihr folgte, dann konnte man erkennen, dass ein einziges Rinnsal unter dem Fensterrahmen entlang kroch.
»Pling«
Seine Hand berührte mit aller Vorsicht das Fenster, doch hastig zog er sie zurück. Er hatte sie fühlen können, die Macht des Ozeans. Wo war er? Woher kam das Wasser? Tausende Fragen schossen durch seinen Kopf, doch sie alle verhallten in der Panik, die sich wie eine finstere Hand um seinen Verstand gelegt hatte, die ihren Griff stetig verstärkte, bis irgendwann nur noch ein wimmerndes Etwas in der Ecke liegen würde.
Doch noch war es nicht so weit. Seine Beine hatten aufgehört, zu zittern, und mit der größten Mühe gelang es ihm, einen Schritt zurückzutreten. Er drehte seinen Kopf hinüber zum anderen Fenster. Auch hier hatte sich bereits das Wasser einen Weg verschafft. Er raste durch das Schlafzimmer in die Küche. Dasselbe. Seine Füße rissen knöchelhohe Wellen in den Schleim aus alten Zeitungen und den Essensresten, die vom Fensterbrett gespült worden waren. Da waren sie wieder. Die alten Bilder. Die alten Schmerzen, die man nie vergisst, die man nur freigibt. Nur heute waren sie zurückgekommen. Er taumelte, musste sich festhalten. Seine Hände glitten am Türrahmen ab. Lackreste schälten sich vom nassen Holz, blieben an seinen Fingern hängen. Die ganze Küche schien bereits aufgegeben zu haben. Doch er nicht.
Er rannte ins Wohnzimmer, riss den Wandschrank auf und holte alles heraus, was er in den letzten Jahrzehnten gesammelt hatte. Bücher. Hefte. Anzüge. Alles konnte helfen, alles hatte einen Sinn. Mit wütender Panik durchwanderte er die Zimmer, drückte, presste, stopfte mit dem Elan eines jungen Menschen Lücken zu, durch die das Wasser, der unendliche Ozean, kommen konnte. Jede Sekunde war ein Leben. Jeder Atemzug kostbar.
Die letzten Anzüge, die er nie getragen hatte, rammte er in die Lücken unter dem Küchenfenster. Jetzt musste er nur noch saubermachen. Dann konnte er überleben. Er schlurfte, ausgebrannt von der harten Arbeit, zum Kühlschrank. Eine einsame Dose Fisch starrte ihn an. Er riss sie auf, zerrte die Filets mit den Fingern in seinen Mund, warf die Dose in den Mülleimer.
»Pling«
Noch nie war ein Ton lauter gewesen, in seinem ganzen Leben nicht. Er wirbelte herum. »Nein!«, keuchte er. Diesmal war es kein Tropfen gewesen. Er starrte den Riss an, der sich quer über die Scheibe gezogen hatte; eine Linie, die sich vorsichtig, einer Baumwurzel gleich, über das Glas kroch.
»Nein, nein, nein«, seine Worte waren nur noch ein sinnloses Wimmern, ohne jeglichen Verstand dahinter. Es knackte im Schlafzimmer, krachte, dann hörte er ein Plätschern, das sich über den Teppich ergoss. Raus! Raus!
Nur Augenblicke später blickte auf die Wohnungstür. Hinter ihr lag … was? Schritte näherten sich über den Treppenstufen. Die Stimme zweier Nachbarn? Halluzinationen?
»Hey!«, hörte er sich brüllen. »Helft mir! Bitte … bitte … bitte …« Seine Stimme wurde zu einem Wimmern, kaum lauter als das Kratzen seiner Fingernägel auf dem Holz. Er drehte seinen Kopf zu den Schlössern, die ihn schützen hatten sollen, vor den Gefahren da draußen … er begriff und er lachte.
Sein Lachen überflutete seinen Verstand. Augenblicke danach brach der Ozean durch und überflutete auch den Rest.