Dämon – Kapitel 1 – Lisa

Dämon – Kapitel 1 – Lisa

Die Hand hängt erstarrt, es zittern die Oberarmmuskeln, die Luft ist Wasser, Eis geworden, eine transparente Brühe, die es zu durchdringen gibt.

Jeder letzte Schritt beginnt mit einem ersten und auch wenn die beiden nicht verwandt oder zumindest nicht miteinander bekannt, so tragen sie die gleiche Energie in sich: keine Zeit zu verlieren im ständigen Wandel der Welt.

Einige Leute sprechen von Interkonnektivität, andere von einem magischen Feld, das alle umgibt, jede Person mit jedem Baum, mit jedem Bakterium, Virus, verbindet … doch der größte Feind ist noch immer der Laplacescher Dämon, eine Art erdachte Superkreatur, die jederzeit aus dem hier und jetzt das dort und dann berechnen kann. Man verschiebt seine Freiheit, so sie existiert, in die Welt der totalen Abhängigkeit, errechnet Münzwürfe durch tausende minimale Umstände, aber der größte Umstand wird nicht beachtet: das »Warum?« Warum wandert welche Münze mit welcher bewussten Entscheidung und zusammenfantasiertem Auskommen durch die Luft, dann auf den Boden?

Tja, das ist es nun. Er ist hier. Ganz gleich, welche Schritte notwendig waren, um ihn an diese Stelle zu bekommen, ist eigentlich total scheißegal.

Nein. Kein Eigentlich. Total Un-Eigentlich. Wie … wenn nicht dieser verfickte Dämon, konnte das beginnen? Er hört in seinem Kopf das Kreischen der Nadel, die sich in das harte Plastik einer Schallplatte presst, die Melodie der Wirklichkeit, das Ticken der orange-leuchtenden Uhr vor ihm verstummt, wie verdammt nochmal hat alles begonnen?

*** Lisa ***

Montag, der 16. Mai 2016

Lisa zittert. Der Wind, der sich wie so oft durch Berlins steile Häuserfronten drückt, brennt auf ihrer Haut. Sie zerrt an ihrer dünnen Jacke herum, versucht, irgendwas zu machen, die Ewigkeit herumzubringen, die sie hier, mitten auf dem Mittelstreifen der Bismarckstraße verbringt, in der Menge der anderen, um endlich weiterzukommen. Autos schleichen an ihr vorüber, Augen starren sie an, statt sich auf die Straße zu konzentrieren, ein Gedanke schießt in ihren Kopf: Jetzt loslassen. Einfach alles loslassen. Ihr Mann ist nicht so wichtig. Nach 18 Jahren Ehe hat er keine Augen mehr für sie, obwohl sie alles getan hat, um attraktiv zu sein, trotz der 2 Kinder, trotz seiner Angewohnheit, nicht kochen zu können und lieber Döner oder Hamburger zu kaufen, trotz seinen gefühlten Wochen in der Garage, wo er sich lieber um sein Auto kümmert als um sie … und sie weiß, fühlt, dass er dort nicht nur an dem Opel rumschraubt, sondern auch an der Tochter ihrer besten Freundin, dieser Fotze, nein … der Mann ist nicht wichtig. Doch ihre Kinder. Würden sie es verstehen, würden sie ihre Entscheidung akzeptieren, aufzugeben?

Autos hupen, einer der ihrigen ist an der Kreuzung stehengeblieben, der Fahrer starrt wild umher, umhergewirbelt wirken seine Augen, vermutlich weiß er nicht, ob er jetzt Gas geben soll, weil die Gegenspur noch immer frech genug ist, einfach draufloszufahren, weil sie grün haben und er eigentlich auch, aber wenn man nunmal nicht fahren kann, dann geht das einfach nicht. Das ist aber so: Wenn jemand anders hupt, hupen gleich ein paar Leute mit, weil sie dazugehören wollen und so verwandelt sich diese winzige Blockierung in einen lebensbedrohlichen Zustand für die Seele, wie ein bisschen zuviel Butter, das mit einem Mal die Arterien verstopft und aus diesem Grund gibt der Fahrer nun Gas, kollidiert fast mit einem entgegenkommenden LKW, dessen Fahrer nun auch die Hupe betätigt, Walgesang, der ein Aquarium zum Platzen bringt. Nun kreischen alle Autos in einem Umkreis von 500 Metern oder mehr und der Schmerz in Lisas Ohren flammt wieder auf, die Faust glühenden Metalls frisst sich in ihre Schläfe, bringt ihre Zähne zum Bersten. Sie presst ihre Hände an ihren Kopf. Kreischt. Blickt sich um. Keiner sieht sie. Alle schauen auf ihre Handys oder starren die Wagen an oder den Himmel, tun so, als … nein, nicht nur als: Sie ist unsichtbar.

Sie geht los. Ihre Füße berühren den Boden, pressen ihren ganzen Körper nach oben, als würde sie springen wollen, einem unbekannten Himmel entgegen, aber die Gravitation, die blöde Gravitation behält ihre Stärke gerade für Lisa und während die Menge ihre Aktion mit Kopfschütteln und leisem, fast unhörbarem Zischen und Wispern bedenkt, weil sie entweder viel zu gut erzogen oder viel zu feige sind, im Berufsverkehr bei Rot über die Ampel zu gehen. Autos hupen wieder, jetzt wegen ihr, was den Druck hinter ihrem rechten Auge nicht noch mehr verstärkt als er eh schon ist und das Geheule der Menschen, die feige ihre Rolle im großen sozialen Universum spielen, gesteuert von Regeln, deren Gründe sie nicht erfassen …

»Hey« ein Auto kommt ihr zu nahe, berührt ihr Knie. Sie bleibt stehen, dreht sich nach rechts um, starrt dem Fahrer hinter seiner sicheren Glasscheibe an, dessen Augen wie schwarze Löcher wirken, hinter denen die Arroganz der motorisierten Klasse lauert, seine Mundwinkel zucken vor Verlangen, das Gaspedal bis zum Anschlag hinunterzutreten, diese Made von Fußgänger zu zermatschen, die Räder auf den Resten der unwürdigen Kreatur durchdrehen zu lassen, bis sie verschwunden ist, aus seinen Erinnerungen ausgelöscht wurde, damit er den Traum der großen Freiheit weiterträumen kann. Ihre Faust trifft die Motorhaube, sie sieht Panik im Fahrer, was gut ist, dann dreht sie sich wieder um und wandert weiter. Sie vermeint sogar ein leises Klatschen einer unbekannten Zuschauergruppe an ihren Fenstern zu hören, von Leuten, die sich nicht trauen, ihre Wohnungen zu verlassen.

Als sie in den Laden tritt, verschwindet die Welt da draußen. Sie mag die berechnete Atmosphäre, die kalkulierte Abfolge der Schritte, um Drogerieprodukte zu erwerben oder sporadisch, wenn Lukas es nicht mitbekommt, auch biologische Produkte, säuberlich abgepackt, wie Vollkornnudeln. Seine Verdauung ist eh nicht ganz auf der Höhe und auch wenn der Doktor etwas gesagt hat, das verdächtig nach »Fettleber« klingt, so weiß sie, dass Vollkornprodukte den Alkoholgehalt im Blut ihres Mannes nicht senken werden. Ihre Hand gleitet zu ihrem Oberarm, fühlt den Druck des blauen Flecks. Ihr Mann schlägt taktisch zu, auch wenn er kaum noch stehen kann, seine Angst, erwischt zu werden, ist noch immer da, ganz weit hinten, direkt hinter seinem Blick, wenn er seine neue Schlampe nagelt.

Zuviele Leute auf zuwenig Raum. Augenpaare versperren den Blick auf die Regale, die Versionen desselben Materials anpreisen, Drogeriezeug, Babynahrung, Süßigkeiten, Bio, Parfüm. Überforderte Gesichter träumen von magischen Händen, die ihnen reichen, was sie brauchen. Man schiebt sich aneinander vorbei, peinlichst bemüht, den anderen nicht zu berühren, ein böser Blick, ein leises Zischen gilt schon als Strafe, wenn man die magische Grenze fast übertreten hat. Ein Kinderwagen am Ende des Ganges verleitet Lisa dazu, schnell abzubiegen, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, ein Hindernis zu sein.

Oder die Mutter, deren böser Blick über die Ladenfläche kreist, um ein Opfer zu finden, jemanden, dem sie zeigen kann, das sie besser ist als alle anderen. Ihre Lippen pressen jede Freude aus ihrem Gesicht, sind so hellrot, dass sie fast blau sind, ihre Stirn ist gerunzelt. Augen starren aus verschlafen wirkenden Höhlen in die Welt hinaus, die nur das zu beweisen hat, was sie glaubt: Macht kommt aus meinem Inneren. Ihr Wagen quietscht leise, als die Rollen sich wie die Ketten eines Panzers durch das Labyrinth aus Menschen und Regalen schiebt, jeder muss es hören und erfahren von den Abenteuern, die das Kind, das sich in ihrem Brusttuch befindet, noch nicht erfahren kann. Der Wagen, eigentlich dazu geschaffen, das Bündel Mensch in sich aufzunehmen, ist nicht einmal leer, dort liegen aber notwendigere Objekte, wie Lisa sehen kann, als sie sich dumm genug stellt, hinzustarren, der Göttin die Anbetung nicht zu verweigern, was ein fahles Momentbruchteillächeln in die aufgerissenen Mundwinkel setzt. Das Quietschen verstimmt und das Stirnband, selbstverständlich von marokkanischen Handwebern in monatelanger Kleinarbeit und im ökologisch einwandfreien Laden, vermutlich in einer nahen Einkaufspassage erworben, wird von der Stirn gezerrt, als Schweißfänger-Accessoire und Herumwedelobjekt missbraucht. Dünne graue Fäden kratzen nur ganz unscheinbar an der Kopfhaut der Königin des Ladens. Hat sie auch Haarfärbemittel gekauft? Wenn ja, dann etwas absolut auffallendes, man will ja nicht als alte Schachtel durchgehen; selbst als Mama ist man dem vernichtenden Blick der Öffentlichkeit ausgesetzt und das Alter ist die soziale Todesstrafe.

Lisa nickt ihr lächelnd zu, während die Frau, die Aufmerksamkeit genießend, ebenso fahl zurückgrüßt, ein »Ach wissen Sie« anstimmt, was Lisa nicht zu Ende hört, denn sie dreht sich um und geht davon, vorbei an Reinigungsmitteln in Richtung der Parfüme, überhört beflissentlich das enttäuschte Zischen der Feindin. Was jünger ist, ist ein Feind. Egal, ob es ein Objekt oder ein Subjekt ist. Lisas Hände streichen über die Packungen, die sich aus den Regalen herauslehnen, eine flehende Bitte, gesehen zu werden … fühlt die weichen Borsten der Bürsten und zerkratzt sich halb den linken Zeigefinger, als eine Plastikhülle nicht hält und seinen Inhalt in die Welt springen lässt. Ihr Kopf ist halb klar. Sie biegt rechts ab. Sucht und findet.

Manchmal möchte man weinen, wenn man sieht, wie hübsch einzelne Leute sind, wenn man begreift, dass alles, was das Universum ihnen (in einem vernünftigen Rahmen) entgegenwirft, von der Hübschheit abprallen. Schönheit ist abstrakt, ist Übermaß an fleischlicher Mathematik, ist programmierte Essenz; Hübschheit ist Strahlung aus einer anderen Dimension, die mit unseren Mitteln nicht zu berechnen ist und wenn, dann wird aus der Formel eine Absonderlichkeit ähnlich dem Kawaii-Niedlichkeitswahn aus Japan, man weiß nicht, ob man geil oder panisch wird, als wenn einem die Zähne schmelzen vor lauter Zartheit.

Die Frau ist hübsch. Nein, Frau ist übertrieben. Mädchen ist untertrieben. Teenager auf keinen Fall mehr, hängt doch ihr Hintern ein wenig zu sehr unter der Jeans, auch zeigt ihr Nacken für einen Augenblick das Gespinst blonder Härchen, wird aber vom unauffällig gefärbten Pferdeschwanz schnell verdeckt, als wüsste er um diese »Schwachstelle«. Sie ist keine Schwäche, nur ein weiterer Tritt in Lisas Magengrube. Ihr Rücken lässt vermuten, dass sie in nächster Zeit noch ein wenig mehr zunehmen wird, denn sie ist nicht schlank oder vernünftig mittelschwer, aber das lindert nicht den Schmerz dieses dämonischen Wunders von Mensch. Die Plexiglasscheibe, hinter der das Parfüm steht, wirft ihr Gesicht halb verzerrt durch die Welt, aber Lisas Verstand setzt aus den Puzzleteilen der Bewegungen ein Bild zusammen, eine Projektion aus, so muss sie es sich gestehen, Hass und Gier. Sie hatte nie das Verlangen, sich um andere Frauen zu kümmern, ihre Zwillingssöhne Benjamin und Daniel hatten schon zeitig, wie ihr Vater stolz erklärt, Mädchenherzen in ihre Hände genommen und langsam zerdrückt, als wären sie faules Obst. Viele Tränen haben ihr Wohnung getränkt und Lisa kann die ihren zählen: Null. Nicht, dass Lukas das verlangt, nein, ihn würde es sogar erregen, aufgeilen, wenn sie weinen würde … stattdessen hat sie sich seit vielen Jahren damit abgefunden, ein Stein zu werden und die heulen nicht.

Sie hat das Bedürfnis, aus einem der Regale eine Nagelschere zu nehmen, die Hülle aufzureißen, nein, eine Nagelfeile, ja, diese zu nehmen, den Pferdeschwanz der jungen Dame zu packen, ihn wie ein Pferd nach oben zu zerren und die Nagelfeile dort, wo Kopf und Rückgrat ineinander übergehen, hineinzutreiben, eine Art weniger perverse Lobotomie vorzunehmen, ihr das Hirn herauszuzerren. Sie ist nicht Lukas, dessen Gewaltblitze zu Gewittern werden, das Bild kommt und vergeht wie ein einzelner Blitz und ihre Hände zittern, aber sie presst sie aneinander, die Fingernägel beißen in die Handflächen und dann ist es auch schon vorbei. Echte Schätze sind wie Dämonen, man findet sie nicht, man wird nicht von ihnen gefunden, sie existieren nur für Auserwählte. Nur der Abdruck der abgekauten Fingernägel, die blassrosa mit grauen Rändern an ihren Fingern hängen, bleibt, kein Blut, nie Blut, das wäre auffällig.

»Hey«, sagt eine Stimme. Lisa dreht sich vorsichtig um. Die Frau mit dem Kinderwagen. Lisa nickt.

»Möchten Sie vorbei?«, fragt sie. Nein, aber sie möchte die alte Frau betrachten. Alt. 40 wird sie, bald, aber für die andere ist man schon alt, wenn man nicht mehr jung für einen Kinderwagen ist.

»Renate«, sagt die Frau, » und ich bin 37 Jahre alt.«

Lisa lächelt. »Ist das Ihr Kind?«

Renate nickt. »Adoptiert«, sagt sie, kurz angebunden. »Ich wollte mich nicht versauen, Sie wissen schon, untenrum.« Versauen. »Und Sie?«, fragt Renate.

»Versaut. 2 Kinder. Zwillinge. Werden jetzt 17«, glaubt sie zu wissen.

»Wow« Danke für den sinnlosen Kommentar, Renate. »Aber Sie sehen gut dafür aus.«

»Sie auch«

Verwirrt streicht sich Renate über die Haare.

»Wie heißt er oder sie?« fragt Lisa.

»Bernd oder Odetta, ich weiß noch nicht. Wissen Sie«, wieder streicht sie sich über die Haare, »es muss schon einen gewichtigen Grund haben, dem Kind eine geschlechtsspezifische Meinung zu geben, indem man ihm schon einen Namen gibt, den es unter Umständen ablehnt. Ich und mein Mann, Klaus-Peter, wir sind übereingekommen, der Welt keine vollständige Person zu präsentieren, deren Verhaltensmuster durch übertriebenen Schub in eine Richtung bereits festgelegt sind. Wissen Sie«, wiederholt sie wieder, »das ist ja so eine Industrie hinter genderspecific Lebensweisen, hinter Kleidung und Büchern und farblichen Objekten, mit denen Kinder zu kämpfen haben, gerade wenn jemand ihnen vorschreibt, was diese Industrien wollen, wer man ist. Aber er oder sie muss einfach Fußball spielen und Cembalo lernen. Wir setzen es bereits vor alle großen Spiele und mein Mann hat einen Streaming-Account eingerichtet, wo immer Bach und Boccherini und so laufen, Sie wissen schon, Johann Sebastian, aber noch mehr Carl Philip Emanuel. Bach meine ich, nicht Boccherini.« Sie lacht wieder. Ihre Finger bleiben in ihren Haaren hängen, haben sich verknotet. Sie reißt daran, ein kurzer Ausdruck von Lust gleitet über ihr Gesicht. Lisa nickt. Sie hat nicht ganz zu gehört, denkt immer nur noch an Benzin und Feuer und schmelzende Augen.

Mehr und mehr Leute versuchen sich, an der Miniaturgruppe vorbeizuschieben, unflätige Bemerkungen verhallen ungehört leise in beider Frauen Ohren, die sich anschweigen, warten, dass die andere etwas sagt, was eine der Regeln der Kommunikation ist. Ein dumpfer Schlag lässt Lisa aufblicken, eine Schulter hat die ihre gestreift, vermutlich mit voller Absicht. Sein Gesicht ist eckig, seine Augen hinter einer Sonnenbrille versteckt, der Rest des Schädels hinter einem Basecap, fettige Haare stechen heraus wie ein Igel im Sommerurlaub. Seine Brille scheint mit seiner Haut verschmolzen zu sein, ölige Schmiere zeichnet Linien auf die Plastiklinse, die im Gegensatz zu irgendwelchen Werbungsinformationen gerade nicht UV-Licht davon abhält, wichtige Lichtrezeptoren in den Augen zu vernichten, jedesmal, wenn er nach draußen geht. Was er nicht oft macht, seine Kleidung wirkt wie von Mutti zusammengestellt, die aber dann freiwillig Selbstmord begangen hat: Er hat nie versucht, etwas an der Auswahl zu ändern. Er grunzt dafür umso lauter. »Hey« zischt Lisa, »Passen Sie auf.« »Hier ist keine Promenade, Lady« Sein Atem schmeckt nach Lakritz und Schinkendampf. Eine Hand hält eine dieser E-Zigaretten, die ihre Söhne besitzen, die effizienteste Möglichkeit – nach Veganismus – so zu tun, als ob man seine Gesundheit schätzen würde. »Wollen Sie in einem Film mitspielen?« fragt er grinsend.

»Pfui«, brüllt Renate, »pfui, pfui, weg da!« Ihre Wangen brennen, als sie den Wagen davonschiebt, ohne Rücksicht auf die Tiere, die im Weg stehen.

»Nein«, sagt Lisa. Der Mann nickt und geht davon, greift sich im Vorbeigehen einen der leuchtenden Töpfe mit Proteinpulver, die gegenüber dem Gesundheitsregal stehen, eine Versuchung, eine Waagschale: Gesundheit oder Selbstverbesserung. Er könnte, wie Lisa denkt, beides gebrauchen.

Ein lauter Knall, schnelle Schritte, spitzes Aufheulen junger Gesichter ein paar Regale weiter. Die automatische Tür öffnet und schließt sich. Wütendes Stampfen von links, vom hinteren Ende des Ladens, eine Spätteenagerin im Arbeitskittel zieht fluchend vorbei, dann stoppt sie, läuft zurück, kommt wieder, einen Besen und eine Schaufel in der Hand. Eine Welle künstlicher Ferne rollt durch das Geschäft, brennt einen (nach Ansicht der Chemie-erprobten Angestellten der Hersteller) idealisierten Ozean durch die Nasen und Münder der Menschen, die panisch fliehen, aber nur für ein paar Schritte, bevor sie von unbekannten Erinnerungen heimgesucht werden, Jahre ziehen vorbei, verwandeln sie zurück in Kinder, bis sie bemerken, dass die Ostsee deutlich mehr gestunken hatte als dieses Märchenwasser, das nun aufgewischt wird.

Als die Rückblende vorsichtig abklingt und sich in den Hintergrund zurückzieht, ist Renate fort. Ein Teil ihrer Existenz hinterlässt die Erinnerung, die quietschenden Rollen deuten an, dass sie zur Kasse geeilt ist. Lisas Plan kommt wieder zurück. Der Plan und der Zorn. Ja, stimmt. Plan. Als ob so einer existieren würde, außerhalb von Gedankenblitzen und dem Blick auf großrückige hübsche Frauen … die auch verschwunden, geflohen ist.

An der Kasse stehen noch 2 Leute vor ihr. Der Mann mit dem Proteinpulver-Eimer und eine Frau, klein, verwirrt, um die 60, trotz der sommerlichen Temperatur da draußen eingepackt wie ein Weihnachtsgeschenk, ihre Hände zittern blau, als sie endlich den Korb auf das viel zu kurze Laufband ausschütten darf: nur Probepackungen Handcreme und Parfümrollstifte, mindestens 10 Stück von jedem. Die Verkäuferin schürzt ihre leuchtendroten Lippen, verzieht aber sonst keine Falte ihres zu jung alternden Gesichtes.

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