Black Metal Cowboy – Tote hören keinen Techno – Kapitel 8
Die Gemeinschaft
Sigmund tritt vorsichtig vor die Türe seiner Unterkunft. Bemüht, keinen Laut zu fabrizieren, huscht er, einem bizarr-leuchtenden Schatten gleich, über die Brüstung, in die Hecke. Hier keucht er kurz, bevor er sich mit Anlauf dem Baum nähert, an dessen grober Rinde er die Griffmöglichkeiten im Schlaf benennen könnte. Sanft schweben einige Blätter zu Boden. Sigmund betrachtet sein Umfeld aufmerksam. Er kennt das Lager bereits auswendig, doch fühlt er seit wenigen Augenblicken wieder das Stechen in seiner Brust.
„Panik ist der Feind. Angst ist der Teufel. Zorn ist die alles vernichtende Waffe unserer Feinde.“ Starke, überzeugende Worte, in Demut leise wiederholt, die heute, nur heute, nicht den inneren Frieden schaffen.
Sigmunds Körper verkrampft sich und er beginnt, hin und her zu schaukeln. Ähnlich wie die Flucht vor einem unsichtbaren Feind schießen Gedanken durch seinen jungenhaften Geist, schweifen seine Augen über die wenigen Häuser in seiner Umgebung, fühlen sich seine Hände an wie Eis.
Augenblicke darauf hat er sich beruhigt und seine Neugier siegt erneut über die Wünsche des „Vaters.“ Wohlklingende Töne streifen durch die warme Nacht. Er fühlt sich nun wieder sicher. Mit einem Satz ist er in der Luft und landet auf dem Dach. Die Lichtkegel unterhalb der Wachtürme bewegen sich mit berechneter Eleganz, abstrakte Gleichungen zeichnen Bilder von verwirrender Schönheit auf den staubigen Boden. Sigmund fühlt sich gut, denn er kennt die Pfade des all zu bedrohlichen Lichtes.
Mit der Grazie des Tänzers und dem Willen des Kriegers gesegnet, schwebt er förmlich durch die Schatten. Selbst mit geschlossenen Augen ist der Weg zum „Zelt der Bekehrung“ ein Kinderspiel und ein Kind ist er wirklich nicht mehr. Aufgeregt schiebt er ein Stück Plane zur Seite und schaut ins Innere.
Die Neuankömmlinge erinnern ihn stets an Schafe, die zur Schlachtbank geführt werden. Auch jetzt starren sie auf den Boden vor sich, keiner hebt die Augen. Sigmund beginnt sich schon nach Augenblicken zu langweilen. Doch dann kommt Bewegung in die Gruppe. Eine Frau wird von der Hand eines der Gemeindemitglieder gepackt. Er kennt diesen Menschen nicht, trägt er doch einen weißen Anzug aus feinem Stoff und hält sein Gesicht hinter einer Maske verborgen.
„Ja, Vater“, sagt er und dreht sich langsam um. Im Dunkeln erscheinen die Augen seines Gegenübers noch heller als sonst. „Als könnte er die gesamte Welt überblicken“, haucht er leise.
„Es ist Zeit, mein Sohn, unsere neuen Freundinnen zu begrüßen.“
Stampfender Techno überlagert die aufgeregte Atmosphäre, doch geht ein fühlbares Raunen durch die immer weiter gewachsene Menschenmenge. Sigmund steht mit „Vater“ auf einem Podest, jenseits des Eingangs, von recht und links strahlen farbige Laser durch die rauchgeschwängerte Luft, streichen über die Köpfe von jungen Frauen, die mit freudigen Augen kurz dem Lichtkegel folgen, bis sie endlich Sigmund erblicken. Kreischen rollt durch die weibliche Anhängerschaft, die „Vater“ stets so scherzhaft als „Fanclub“ bezeichnet. Sigmund lächelt. Er fühlt die Mächte in sich aufsteigen und bemerkt, wie die Hand von „Vater“ ihn an der Schulter packt, liebevoll und doch bestimmt. Der Ritus beginnt. Die Musik wird lauter, beginnt sehnsüchtig an seinem Verstand zu nagen, sucht einen Weg in das Innerste seiner Seele. Da, der Punkt. Sigmund geht in die Knie, atmet exakt 3 Mal tief ein, reißt die Hand hoch und zeigt das heilige dritte Auge. Da, im Toben der Menschenmenge unter ihm, bemerkt er die Neuen, die er vor wenigen Stunden befreit hat. Befreit aus Sünde und Not, befreit von Verlangen, Zorn, Streit, Hass. Und er fühlt Liebe, eine wahnsinnige Liebe von ihnen ausgehen und diese Kraft, die sich ihm öffnet, ergießt sich in seinen Geist und dann geschieht ein Wunder, das Wunder, welches ihn seit jenen Tagen in seiner Kindheit mehr als alles andere fasziniert. Knackend öffnet sich das Auge auf seiner Stirn und ein Fluss aus weißer Energie schießt hinaus in die Welt, verwandelt Zeit und Raum in einen tosenden Ozean, in dem seine Existenz und die Leben aller um ihn herum versinkt.
„Vater“ sieht dem Ereignis immer wieder gerne zu und auch diesmal fühlt er sich sehr von den jungen Menschen vor ihm angesprochen. Er nickt, als er der Frau mit der Tätowierung anschaut. Sie gefällt ihm mehr als die anderen. Er wird wohl einmal mit ihr privat reden müssen.
Die Hand seines Ziehsohns beginnt zu zucken, verkrampft schmerzhaft in der seinen. Er schaut hin, erschrickt, als er die verzerrten Gesichtszüge Sigmunds erblickt. Die Musik versinkt im Hintergrund, denn seine Stimme bohrt sich direkt in seinen Kopf. „Der Cowboy ist auf dem Weg.“