Dämon – Kapitel 4 – Brenda

Dämon – Kapitel 4 – Brenda

Es ist schade, dass keine Ferien sind. Es ist noch schlechter, dass dieser Tag auserwählt wurde, um als Sprechstunde für einzelne Eltern zu dienen, die gerade Montage in diese schlechte Schwingung bringen… die Welt wäre besser, wenn man die Arbeit nicht als Übel, sondern als Lebenswille ansehen würde; nicht als Opfergabe, sondern als Erlaubnis Gottes, seiner Existenz einen Zweck zu verleihen.

Leider ist dem, als Bredna ihren Kopf vom Heft hebt, in das sie den Termin – Familie Hubert und Larissa Bauer, Zweck: Sohn Yola-Martins mangelhafte Mitarbeit sowohl im schulischen als auch im nachschulischen Umgang – erkennt. Die Schule heute ist leer, ein Wandertag am Ende des Jahres, nur eine Erinnerung, dass andere Lehrer Spaß haben, sich betrinken dürfen, nur sie nicht. Sie ist eine gute Lehrerin. Die Eltern von Schülern sind nicht gut. Famile Bauer ist schon mehrfach auffällig geworden und die Kollegen betrachten Brenda als willfährtiges Opfer von Beschwerden, sie weiß selbst, dass sie weniger redet als sie sollte. Die Kommunikationskurse – letzter Kurs bisher, 02.05.16 bis 08.05.16, »Was Eltern wirklich sagen wollen – Was sie sich nicht trauen, zu sagen«, bestanden mit einer üblichen scherzhaft verliehenen »Eins mit Sternchen« – sind Schwachsinn, aber die Behörde hat zuviel Geld und muss sie loswerden, Gerüchten zufolge. Natürlich liegen diese Gerüchte nur den Eltern vor, nicht ihren Kollegen oder sogar ihr selbst. Wie käme man darauf, dass sie Bescheid wüsste. Die Blicke der Erziehungsberechtigten sprechen Bände, wenn sie als Pärchen auftauchen und die zusammengesunkene Dreißigjährige in ihrem Oma-Outfit sehen, Schubladen öffnen sich, Erinnerungen erwachen, Erinnerungen an härtere Zeiten, als lange Lineale auf Schülerhände und -hintern geschwungen wurden, als man Latein lernen musste, bis die Augen bluteten, als Schüler und Lehrer im Gleichschritt zum Appell marschierten, Links-Zwo-Drei-Vier.

Aber das ist vorbei, sagt sich Brenda immer wieder, das ist nicht mehr die Wahrheit. Solche Bilder lauern im kollektiven Weltgedächtnis, bleiben Teil gemeinsamer Alpträume. So wie Familie Bauer ein Alptraum für die junge Lehrerin ist. Es klopft an der Tür, sie hört sich selbst »Herein« sagen und das Gesicht von Hubert Bauer schwebt in den Raum, hinter ihm: niemand. Er schlurft durch die engen Reihen bis zu beiden Stühlen, die Brenda schon vor ihrem Tisch platziert hat, starrt sie unsicher an und wählt den Stuhl zur linken. »Guten Tag« sagt er. »Guten Tag, Herr Bauer« antwortet die Lehrerin, dann schweigen beide. »Was gibt’s?« fragt er. »Warten wir nicht auf Ihre Frau?« Er lächelt bitter, seine Mundwinkel verlieren ein wenig ihren Halt, sein sonst bartloses Kinn zeigt erste Spuren nächtlicher Abstürze, dann schüttelt er den Kopf und zieht seine Hand durch seine Haare, die einen Friseur gebrauchen könnten. »Frau Bauer wird nicht erscheinen.« »Oh« ist Brendas Reaktion. Sie legt das Blatt mit den Eintragungen vor sich hin, starrt darauf, versucht, ihre Gedanken zu ordnen. »Herr Bauer, Ihr Sohn Yola-Martin hat Probleme. Sein Verhalten Mitschülern gegenüber hat sich in den letzten Monaten massiv verschlimmer. Seit unserem letzten Gespräch im Februar haben sich Mitschüler und Kollegen mehrfach bei mir gemeldet. Es ist alarmierend. Ein Beispiel: Am 30. April diesen Jahres hat er während des Unterrichts einem seiner Mitschüler den Stuhl weggetreten, dies über sein mitgebrachtes Smartphone gefilmt und online gestellt. Weder ist die Nutzung dieser Geräte erlaubt, noch kann sein Verhalten toleriert werden.« Sie schweigt, wartet auf Widerspruch, etwas, was nach »Mein Sohn ist ein Künstler. Das Internet ist schuld.«.

»Ich bedauere, dass ich Sie anstarre« Herrn Bauers Augen untertreiben. Licht brennt aus dem Inneren seiner Seele wie in einem vom Brendas Büchern, die Anna mit Liebe zerreißen und wegwerfen würde, Bücher, die Menschen lesen, die kein Leben haben, Bücher, deren Cover mit halbnackten Kriegern, Piraten, Lebensrettern gepflastert sind, in ihren Armen jene Frauen, die Brenda so beneidet, während sie sich den Beschreibungen der Ekstasen hingibt, auf vorbildliche Art und Weise, doch das hier ist kein Buch, es ist Herr Bauer! Mitte 40, dicke Augenlider und zuckende Finger, die über den Tisch tanzen. Ein seltenes Gefühl steigt in Brenda auf, eine verloren geglaubte Freude wandert über ihren Rücken bis zu ihrem Kopf. »Herr Bauer« sagt sie, während sie den Zettel hält wie einen Anker, »wir müssen ernsthaft bleiben. Ihr Sohn…« »Sag Hubert zu mir.« »Ich habe Ihnen nicht das Du angeboten« flüstert Brenda entsetzt. Sein Blick senkt sich, sie fühlt, wie er ihr Herz betrachtet, als würde es brennen, einem Leuchtturm in einer endlosen Weite aus Sturm und Nacht. »Ihr Sohn…« wiederholt sie. »Mein Sohn, pah« zischt er, »das Ding, das Sie meinen Sohn nennen, ist… meine Frau… meine Ex…« Der Knall seiner Faust lässt alle Luft aus Brendas Kopf entweichen, er betrachtet seine Umgebung als Feind. »Herr Hubert!« hört sie sich selbst sagen, »Herr Bauer« korrigiert sie sich, zu spät für sein Lächeln, das aus der Tiefe seines schmerzverzerrten Herzens an die Oberfläche steigt. Er lehnt sich nach vorn, der Stuhl, der sonst Kinder trägt, knarrt gefährlich, doch er spricht nicht, wartet, sucht nach den richtigen Worten. Durch das geöffnete Fenster dringt der Lärm der Großstadt ein, ein Krankenwagen saust heulend vorbei, es folgen nach wenigen Augenblicken zwei, drei andere Wagen, dann nur noch Echos und das Rauschen der anfahrenden Autos. Berlin lebt. Was man von Hubert nicht wirklich sagen kann, denn er wirkt so blass, so zurückgezogen in sein Inneres, dass Brenda nicht warten kann, bis er umkippt. »Soll ich einen Krankenwagen für Sie holen?« fragt sie hilflos. »Ich. Nein.« seine Stimme ist heiser und schwach, »ich habe für eine Woche nicht geschlafen… oder ist es ein Monat?« Die Zeit verrinnt. »Herr Bauer…« »Ich bin nur hier, weil ich mich noch in der Verantwortung fühle, für ein Kind, das nicht meines ist. Ich habe herausgefunden, dass sie mich betrogen hat, damals. Ich bin… schwach. Ich liebe das Kind, trotz seiner Fehler. Die hat er von mir auch mitbekommen. Die Erziehung, wissen Sie. Meine Frau, sie hat mich… ausgenutzt.« Er beginnt zu weinen, richtig zu flennen.

»Reiß dich zusammen!« würde Anne brüllen und würde Recht damit haben, aber Brenda ist aus anderem Holz geschnitzt. »Bitte« fleht sie, »hören Sie doch auf.« »Entschuldigen Sie« schluchzt er, dann öffnet er seine Augen wieder, die blauschimmernd in seinem roten Gesicht liegen, »ich konnte mich einfach nicht zurückhalten.« »Sie hätten die Sprechstunde auch absagen können oder verschieben.« »Und was wäre dann? Das würde auch nichts daran ändern, dass der Junge nicht von mir ist und die Klinge, die meine Frau, meine baldige… Ex… in mein Herz geschoben hat, ganz sachte, um mich damit nicht umzubringen, die steckt einfach drin…« Seine Finger werden zu Krallen, die er anstarrt, als könnten sie jemanden umbringen, dann entspannt er sie wieder. »Ich glaube, Sie sollten nach Hause gehen, Herr Bauer«, sie erinnert sie sich an das Training über emotionalen Ausgleich, das Teilen eines gemeinsamen Raums ohne Unterschied zwischen Lehrer und Erziehungsberechtigten, »Hubert.« »Ich habe kein Zuhause mehr, nur noch eine riesige Lüge, die ihre Mauern um mich herum aufgebaut hat.« Brenda steht auf, geht um den Tisch herum und legt ihre Hand auf seine Schulter. Er weicht nicht zurück, Muskelstränge zittern unter seinem blauen Hemd auf, schmiegen sich an ihre Finger. Oder ist es nur Fett und Knochen und sie bildet sich alles ein? Sie lässt ihn los. »Retten Sie mich« flüstert er. »Wie bitte?« fragt sie, der Schock kommt schnell und eiskalt. »Retten Sie mich« wiederholt er. Sie starrt ihn an, unfähig darauf zu antworten. »Hubert. Ich weiß nicht…« Er packt ihre Hand, presst sie. »Nein, lassen Sie das. Ich habe übertrieben. Ich will nicht, dass irgendwas passiert. Ich liebe meine Frau und mein Kind, auch wenn ich Sorgen mit ihnen habe.« Er hat sich mit einem Taschentuch die Tränen abgewischt, lacht vorsichtig.

»Am besten, Sie gehen heim. Sie werden mit ihrer Familie reden, ja?« Brenda spürt, wie ihre Wellen von Mitleid abebben und Gelassenheit kehrt in ihr Herz zurück. Menschen müssen in ihre Mitten zurückkehren, sich dort ausreden, die Welt zu einem Platz machen, der man mit Freude begegnet. »Aber mein Sohn, sie sagten, dass er schlechte Dinge…« »Shh« sagt Brenda und fühlt ihren Finger auf seinem Mund. Sie reißt ihn zurück, hofft und betet, dass er dies nicht bemerkt hat, aber er sieht zu selbstkonzentriert aus, um etwas von draußen mitzubekommen. Seine Hand schnellt nach vorn, packt die Ihre, küsst ihre Finger. Schaut sie an. Sein Blick ist weich und sanft. Er lässt sie los, entschuldigt sich, steht auf und schwankt zur Tür, dreht sich um. »Danke für Ihr Verständnis.« flüstert er, dann ist er schon draußen. »Lüge! Lüge! Lüge« zischt eine Stimme, das Echo einer unbekannten Zukunft.

Jetzt rauchen. Ihre Hände zittern, sie öffnen die Schublade, brechen das Siegel einer plastikverschweißten Packung uralter Glimmstängel, zerrt die Klappe ab und nimmt das hellgraue Muster des Filters in ihrer Hand wahr. Der Geruch überwältigt sie. Er erinnert an früher, an schlechte Zeiten, an Zeiten, die sie verdrängt, bis zu dem Punkt, an dem sie es nicht mehr aushält und doch nachgibt. ER hat das Zeug geraucht, immer wieder, mit Bier, ohne Bier, mit Schnaps… seine roten Augen hinter dem Tabakrauch, seine Mundwinkel ein fleischgewordenes Krematorium. Ihre Hände zittern, als sie den Glimmstängel zu ihrem Mund führt, sie sucht ein Feuerzeug. Rauchen ist hier verboten, sagen Schilder, doch Worte lügen.

Sie schließt die Tür hinter sich. Der Gang begrüßt sie mit klarem Schweigen, ihre Schuhe schlagen Funken in die Stille. Um diese Zeit sollte auch fast keiner in der Schule sein, außer ein paar Klassen, die im untersten Stockwerk Französisch lernen oder irgendetwas anderes, was sie nie im Leben brauchen werden. Es ist ein Vorteil, dass sich Kinder mit 10 oder 11 Jahren voneinander trennen: die einen gehen aufs Gymnasium, um sich einen halben Vorteil zu verschaffen und der Rest, denen die Eltern oder die Gesellschaft nicht erlaubt, eine Karriere anzustreben, hält die Welt am Laufen. Und dann gibt es Kinder wie Yola Martin, die vermutlich exzessiven Erfolg haben werden, weil sie zu sehr darauf getrimmt sind, sich speziell zu fühlen… die ihre Soziopathie zur erstrebenswerten Eigenschaft aufgeputscht bekommen. Der Zigarettefilter quillt in ihren Fingern auf, reibt ekelhaft auf ihrer Haut. »Brenda« Ihr Name brennt in ihrem Ohr. Sie wirbelt herum. »Herr Fischer«. »Nennen Sie mich doch Mark.« »Mark« sagt sie, sichtlich unwohl. Respekt heißt, wenn man sich mit Nachnamen anredet, nicht mit zu offenkundiger Nähe, die unter die Haut kriecht. »Was tun Sie hier?« fragt er. Sein Hemd ist halboffen und man sieht einzelne Haare, die ihren Weg nach draußen suchen, sein übliches Aussehen, wenn er sich aus den Höhen der Direktion in die Tiefen der Schule heruntertraut, seine goldgerahmte Brille baumelt leger zwischen seinen Fingern, er wirkt wie der Zoodirektor, der durch seinen Verwaltungsbezirk wandert auf der Suche nach Entertainment. Ihr Blick muss ihn an ein Reh erinnern, das auf der Straße auf den sicheren Tod wartet. »Familie Bauer, Yola Martin Bauer« »Say no more« sagt er, ohne den Zynismus unterdrücken zu können, »unser Soziopath des Monats«. Brenda nickt vorsichtig. »Lieber würde ich von einem Rudel Drachen im Hemd und kurzer Hose gejagt werden, als…« sie hört ihm nicht wirklich zu. Gerüchten zufolge ist er schöner als jeder andere Direktor hier in Charlottenburg, verbringt seine Freizeit mit Lernen und Sport und anderen schönen Dingen, die, so versucht sich Brenda einzubilden, völlig erfunden sind. Doch seine Brustmuskeln vibrieren vor Anstrengung, als würde er gerade versuchen, die Takelage seines Schiffs unter dem Dauerbeschuss einer Flotte übelgelaunter Piratenjäger zu fixieren. Wind bläst durch sein volles Haupthaar, Gischt malt seine Silhouette nacht, während er Befehle brüllt, die ihm seine treu ergebene Mann ohne Murren erfüllt. Die Planken knarren, Kanonkugeln fliegen durch die Lüfte, sein Blick ist hart und dennoch zärtlich. Er »Brenda?« fragt er. Das Bild ist schneller verschwunden als ihr Name ausgesprochen wurde. »Alles in Ordnung?« fragt er. Sie nickt, wirbelt herum, stampft den Gang entlang, lässt ihn zurück. Ihn, einen der Männer, deren Bilder schöner sind als alles andere.

Berlin begrüßt sie mit der zärtlichen Faust eines Montagnachmittags, nun steht sie hilflos vor der Schule. Die Zigarette lässt sie fallen, sie ist unnötig geworden, sie zertritt den feuchten Tabak mit ihrem Schuhen, wünscht sich, sie würde dabei keine Schuhe tragen und eine Flamme ihre Sohle verbrennen, langsam ein Loch in ihre Haut bohren, bis das Fleisch schmilzt, bis die Qualen unerträglich werden. Ihr Unterkiefer knackt. Im Hintergrund eine Stimme, sie dreht sich nach rechts, findet den Parkplatz, einen Rücken, der gegen die Wand lehnt, einen gestikulierenden Arm mit einer neuen E-Zigarette, hip genug, dass nun alle anfangen zu rauchen.

Hubert Bauer bemerkt sie nicht, als sie heranschleicht, ihre Schuhe hinterlassen keinen Abdruck in seinen Ohren. »Jaja, die Alte… ja, die Alte… halt doch einfach dein Maul. Ja. Keine Sorge, es gibt keine Chance, dass weitere Schritte notwendig sind. Ja. Ja, er ist in Sicherheit. Du weisst, kommt aus schlechter Familie, aus trauriger… ach komm, du bist auch nicht besser als ich. Du weißt, die Alte steht auf mich. Hat mich sogar befummelt. Könnte, ja, du glaubst mir nicht? Nee, hab ihn im Auto sitzen lassen, als böse Strafe. Der Junge zockt eines seiner Spiele. Was weiß ich. Ja, ich fahr gleich los. Ich rauch nur noch eine…« Ein Wagen heult auf, Dauergasfuß, Kupplung getreten, das Jaulen unterbricht das Telefonat. »Was zur verfickten…« Räder kreischen, als die Handbremse gelöst wird, Brenda folgt mit den Augen. Ein SUV, ein viel zu großes Auto für so eine kleine Stadt wie Berlin, rollt auf schweren Rädern heran, beschleunigt, am Steuer die aufgerissenen Augen eines Jungen. »Yola…« Der Motorblock rast auf sicheren Reifen auf die Wand zu, an der Hubert Bauer noch immer lehnt, die Zigarette fällt zu Boden, bleibt in der Luft stehen wie in einem schlechten Fernsehfilm, das Auto hüpft über die frischgepflanzten Blumenbeete, zermalmen die Farben in einen graugrünen Ton. Die Schrecksekunde ist vorbei, Hubert Bauer wird ausweichen, ganz sicher, er dreht sich zur Seite, erstarrt. »Brenda« Ihr Blick ist bitter, ihr Hände packen sein Hemd, hinter dem die dünnen Brusthaare zur Geltung kommen, stößt ihn zurück. Er lässt es geschehen, ob unbewusst oder mit voller Absicht, ist ihr gleich. Sein Gesicht verschwindet kurz, bevor es mit der Wand zusammenprallt, während der Junge laut etwas von »Ich fick euch alle, Ihr Spießer« brüllt, eine Aussage, die, wie Brenda sich erinnert, unter den jungen Leuten heutzutage sehr beliebt ist.

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