Berlin: Ubahn am Morgen

Berlin: Ubahn am Morgen

Das Eintreten dieser beiden hochaufgeschossenen Damen in die bislang ruhige U-Bahn war der stillste Augenblick in der Karriere des Wagons. Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte jedes einzelne Atom, ohne dass beide davon Notiz nahmen. Ich jedoch schon. Die Unterscheidung beider Frauen war sehr einfach: Die rechte der beiden war groß und speckig, mit genug Sonnenbank-Erfahrung für die mittlere Reife eines Sonnenstudios und der Mimik eines Chihuahuas, die linke jedoch hatte kein Gesicht, nur jede Menge Hinterkopf zum Verstecken. Die Frau mit Gesicht begann eine Tirade unermessliches Hasses über…. ich weiß nicht was…. in die schlaftrunkene Einöde des jungfräulichen Morgens zu, wie soll ich sagen, zu schreien. Meine Ohren begannen zu bluten, als ich die Kopfhörer direkt in mein Trommelfell stanzte. Das Geschrei am anderen Ende des Wagens wurde dadurch ein wenig dumpfer, dennoch drängten sich verrückte Frequenzen durch winzige Lücken in mein Innenohr. Ich musste mich entscheiden. Sollte ich schreiend aufspringen und meine Ergriffenheit vor solcher vokaler Grazie durch einen Gang durch die noch immer geschlossene Tür beweisen? Ich schaute auf und flüsterte „Scheiße“. Die Augen des mir gegenübersitzenden Mannes erkannten meine Absicht, er nickte beschwichtigend und drehte seinen Kopf dann wieder in Ruheposition. Ihm schossen Ströme von Entsetzen aus der Nase und er stopfte sie sich mit Fetzen eines zerrissenen Reiseführers aus dem Jahre 2009 zu. Ich entschied mich für eine Änderung der Hintergrundmusik. Sekunden später polterten filigrane Melodien in unsagbarer Lautstärke durch meinen Kopf. Ich hatte den MP3-Player auf den Kopf gestellt und konnte dadurch mit Hilfe der Gravitation eine höhere Lautstärke einstellen.

Im Vergleich zu der Musik, so schädelzerreissend sie auch war, blieben die Frequenzen der beiden anfänglich zugestiegenen Damen in einem Bereich, den kein Lebewesen je gehört hat oder wieder hören wird. Ich träumte von dem Klassiker „Ich habe keinen Mund und muss schreien“ und seinem augenscheinlichen Happy-End. Es näherte sich die U-Bahn-Station Potsdamer Platz. Ich versuchte verzweifelt, einen mir seit kurzen bekannten „Stumm-Zauber für Barden Level 15“ wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, als es still wurde. Still. Mein Herz tobte vor Freude, mir schossen die Tränen in die Augen. Der Moment schien verzaubert, bis „Sache ma, steigen wir hier aus?“ „Nee, Alex“. Meine Augen rollte sich nach hinten und betrachteten das Innere meines Kopfes mit Wohlwollen, denn hier war Dunkelheit. Brüllend schoss mir das Blut durch die Adern und versuchte krampfhaft, zu verdampfen. Nur mit Mühe und durch jahrzehntelange Meditation in einer vergessenen taoistischen Körperhaltung gelang es mir, nicht in Trümmer zu zerbrechen.

Nach einer Ewigkeit in Agonie fühlte ich die beiden aufstehen. Ich rollte meine Augen wieder nach vorn und sah, wie sich die Türe öffnete. Ich zog die Kopfhörer wieder aus meinen Ohren und bedachte sie mit Tränen. Sie hatten ihr Leben geopfert, um mich zu retten. Dann gab mir der ausgesprochen liebevolle Gedanke der Frau ohne Gesicht den Tritt und ich fiel aus diesem Universum. „Siehste, die U-Bahn ist doch gar nicht so schlimm. Aber der Typ da, der gerade umgekippt ist, hat viel zu laut Musik gehört. Ich finde das voll ätzend!“

© 06.01.2011 Emanuel Mayer

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