Wo die Welt aufhört – Kapitel 1
In das Nichts, das in seinem Kopf hauste, bohrte sich aus weiter Ferne ein Geräusch. Es schien, als sei ein Punkt lebendig geworden, würde eine fadenartige Linie durch ein dreidimensionales Stück unerforschtes Stück Universum ziehen. Das Geräusch wurde lauter, verwandelte sich in nervtötendes Surren, zerrte an den Grenzen seiner Wahrnehmung und schließlich landete das Objekt direkt neben seinem Ohr. Er zuckte. Ein brennender Schmerz, hervorgerufen vom brennenden Geschmack seiner Hand, die reflexartig in die Höhe geschossen war und die Mücke, oder was auch immer dieses Insekt gewesen sein mochte, zu Brei zerquetscht hatte, ließ ihn die Augen aufschlagen.
Zuerst blieb sein Blick so dunkel wie vorher, dann jedoch, gleich einem Gewittersturm, der vorbei ist, begann sich seine Sicht zu lichten. Er starrte in den Himmel. Um ihn herum stießen Bäume ihre Wipfel majestätisch nach oben, ein ewiger Kampf nach mehr Licht und mehr Regen als ihre kleinen verkrüppelten Konkurrenten in Bodennähe. Sonnenlicht glitzerte durch die Zweige hinunter auf die Erde und er erkannte, auch durch das drückende Gefühl von Wurzeln und Gras, dass er auf dem Rücken lag. Vorsichtig bewegte er seinen Kopf, um noch mehr von der Umgebung aufzunehmen. Seine Sicht war begrenzt; die Baumstämme hielten wie dunkelbraune Mauern die Festung, die ihn einschloss, zusammen. Er bemühte sich, seine Extremitäten, Arme und Beine, zum Arbeiten zu bringen. Zuerst fühlte er nichts. Einen winzigen Augenblick geriet er in Panik, starrte verzweifelt in der Luft hin und her, doch dann, als hätte er einen unhörbaren Befehl erhalten, begann sein Körper zu zittern, Nervenbahnen begannen ruckartig zu arbeiten, er fühlte, wie sein Herz schlug, wie sich sein Blut durch träge Muskeln presste, hörte das Knacken von Gelenken in seinen erwachenden Ohren und bemerkte, dass er vor Freude schrie.
Dunkelheit schob sich über seine Seele. Die Panik kam wieder, diesmal weniger aggressiv, subtiler als er es in Erinnerung hatte. Er bäumte sich auf, fühlte, wie sich seine Handflächen in das harte Gras schmiegten, packte ein Büschel, riss es aus. Erneut öffnete er die Augen. In das Licht über ihm hatte sich der graublaue Schleier einer beginnenden Dämmerung gelegt. Als wäre es nicht schon schlimm genug, öffnete sich mit einem Ruck ein bisher nur dumpf dahin-pochendes Loch in seinem Schädel und das heiße Gefühl von Blut, das seinen Körper verlassen will, erschreckte ihn so dermaßen, dass er seine Hände hob und sie an die Oberseite seines Schädels presste.
Leise blubberten Fäden von gerinnendem Blut über seine Finger, als er sie über seine Augen führte. „Steh auf, schlaf nicht ein!“ Wer war das? War das echt? Er wälzte seinen Kopf hin und her, ließ seinen Blick schweifen, doch er erkannte nach wenigen Augenblicken, dass er allein war. Allein in einem Wald, ja, Wald, so hieß es, wo er war. Doch die Stimme kam nicht zur Ruhe. „Steh auf! Schlaf nicht ein!“, sie wurde immer drängender, ein Flehen mischte sich hinein, verwandelte es in einen verzweifelten Befehl und als ein Tropfen Blut seine Hand verließ und auf seine Lippen traf, merkte er verwirrt, dass es seine eigene Stimme war.
Er schloss die Augen, fühlte, wie seine Kräfte sich aus einer unbekannten Quelle generierten, zerrte sie aus dem Nichts und mit einem Ruck stieß er sich vom Untergrund ab und stand auf. Ein Schwindelgefühl nahm den Platz in seinem Kopf ein, wo vorher gar nichts gewesen war. Es schien so, als hätte sein Körper nur aufstehen wollen, denn nun, als das erledigt worden war, begann er wieder zu schwanken, nach hinten zu fallen. Er vollführte den ungeschickten Versuch einer Drehung, um sich nach dem drohenden Fall mit den Armen abzustützen, doch das war nicht nötig. Seine Schulter rammte einen Baumstamm. Er schrie auf. Er fühlte, wie sich die Wellen von Schmerzen durch seinen Körper schoben, fühlte, wie die Muskeln sich verkrampften und wieder entspannten und hörte, wie ein klarer Schrei, sein Schrei, sich aus seinem Mund entfernte und durch den Wald schwang, gleich einer Sehne einer Violine.
Er atmete schwer und wurde gewahr, dass er noch immer die Augen geschlossen hielt. Vorsichtig begann er, sie zu öffnen, um die Gegend zu betrachten.Das erste, was ihm auffiel, war der Mangel an Bewegungen um ihn herum. Es schien, als ob die Bäume die einzigen Lebewesen waren, groß genug, um ihm aufzufallen. Er schob sich von dem Baum weg und rieb sich die Hände. Sie fühlten sich merkwürdig rau an. Er hob sie vor sein Gesicht. Drehte sie. Befühlte mit ihnen sein Gesicht. Er schüttelte den Kopf. Unfähig, seine Gedanken zu artikulieren, begann er, hin- und herzuschwanken. Stampfte auf den Boden, hielt sich den Kopf fest. Er fühlte, wie sich Geräusche in seinem Inneren manifestierten, Klirren und ferne Schreie Schreie und dann, als wäre nichts dabei gewesen, schlug ein dumpfer Hammer zu, stoppte alles, was ihm die letzten Augenblicke präsentiert hatten und ließ es verschwinden.
Und dieses Nichts war schrecklich. Denn aus dem Nichts drängte sich eine Frage nach draußen, bohrte sich förmlich durch seine Gedanken, bis es diese vollkommen ausfüllte und mit einem Mal war er hinaus geeilt, segelte durch die Luft wie ein furchtbarer Vogel. „Wer, wer, wer bin ich?“
Er war nicht real, er war nicht wirklich hier und er existierte nur in der Fantasie einer anderen Person, die vermeintlich genau wusste, was er da tat. Er hatte keinerlei Erinnerung mehr. Er fühlte, wie sich die Fragen, eine bohrender als die andere, manifestierten. „Wer bin ich?“ Erneut diese Frage. Er hob seinen Kopf, fühlte ein Knacken in seiner Schulter, in seinem Nacken, blickte zum Himmel und irgendwo da oben kreuzte eine ferne Sonne das Firmament, doch das war nicht wichtig, denn alles hatte sich auf eine Sache zusammengezogen, jeder Rahmen einer Erkundung begann sich nur noch auf ein Ding zu konzentrieren. „Wer bin ich?“
Er versuchte, einige Schritte zu gehen. Zuerst fiel es ihm schwer, als hätte er, wie seinen Namen, wie seine Vergangenheit auch sein Gehvermögen verloren, doch die automatischen Erinnerungen alter Bewegungen griffen schnell zu und er fühlte, wie es immer leichter wurde, je weiter er sich fortbewegte. Er musste fort, eine Macht schob ihn fort, als wäre hinter ihm etwas Böses, das nur darauf wartete, ihn an diesem Platz, in einer Fremde, derer er nicht habhaft werden konnte, zu vernichten.
Die Schritte, die er machte, wurden immer länger, fühlten sich kraftvoller an, mit jedem Augenblick. Er passierte die dicken Baumstämme, die sich in der beginnenden Finsternis in Wände verwandelten, Sträucher, deren rote kleine Früchte ihm wie Blutstropfen vorkamen. Immer weiter brachte ihn sein Körper weg von dem Ort, an dem er erwacht war. Das Licht um ihn herum entfernte sich, brachte das Gefühl von Leere immer mehr zur Geltung. Doch da, eine Bewegung!
Er stoppte, lehnte sich an einen Baum und starrte in die Richtung, die ihm seine erschrockene Reaktion gezeigt hatte. Da wieder, ein Schatten von fast übermenschlicher Geschwindigkeit, zwischen den Bäumen. Er drückte sich so fest an den Baum, dass die Rinde begann, schmerzhaften Druck auf seinen Körper auszuüben. Er fror. Erneut wandte er seinen Blick um. Doch da war nur der wartende Wald.
Der Geruch von Rauch, würzig und fein, legte sich in seine Nase. Er begann zu schnüffeln. „Wo Rauch ist, da ist Feuer und wo Feuer ist, da sind…“ Er stoppte die leise Litanei; die Furcht vor einer Entdeckung saß ihm im Nacken. Dennoch, ihm war kalt und das Gefühl von Hunger, das sich plötzlich bemerkbar machte, fühlte sich an wie ein Zwang und da war sie wieder, diese unsichtbare Hand, die ihn nach vorn stieß, ein Schlag mit einer unbekannten Macht, ein Befehl.
Als der Rauch stärker wurde, sah er auch, irgendwo hinter einem Busch, oder was auch immer in dieser Dunkelheit Busch oder Stein war, das dazu passende Feuer. Es war nur Licht, das zwischen den Zweigen und Blättern auf dem Boden glitzerte. Er trat näher heran. Schwarze Gestalten hüpften um das Feuer, auf und nieder, in einer Stille, die ihn vor Angst zurücktreten ließ. Es waren lange und hagere Wesen, die Hände entweder in die Luft erhoben oder sie schlugen lange Stöcke in der völligen Ekstase ihres beginnenden lauten Gesanges auf den Boden. Dann stoppten sie, erstarrten völlig.
Er glaubte, seinen Sinnen nicht zu trauen, als plötzlich Bewegung in die Gruppe kam. Dann hörte er das Kreischen. Eine junge Frau, über der Schulter eines der Wesen gelegt, wurde in die Mitte der Gruppe geworfen. Sie kreischte wieder, als sie in das Feuer schaute.
Er kroch näher heran. Dann erkannte er, wieso sie ihre Stimme nicht mehr unter Kontrolle hatte. Mehrere Stäbe waren in verschiedenen Höhen über dem Feuer drapiert und, er schluckte, ihm wurde schlecht, waren menschliche Körperteile, Arme und Beine, Stücke von Schädeln und durchstoßene Rippenbögen aufgespießt und von irgendwo her hörte er weitere Menschen schreien und um Gnade winseln. Er würgte. Er wusste nicht, was er tun konnte. Die Frau kreischte noch immer, während die Wesen in ihrer unmenschlichen Art und Weise ihre Augen auf sie gerichtet hielten. Es war wie ein Gericht oder eher, wie ein Fest, das von Wahnsinnigen angerichtet wird, bevor irgendeine Macht sich erbarmte und sie auslöschte. Er schüttelte den Kopf. Er musste etwas tun. Noch war er zu weit weg, um einen möglichen Ausweg zu erkennen. Vorsichtig kroch er näher. Etwas knackte hinter ihm. Er ignorierte es. Dann rauschte es und ein furchtbarer Schmerz in seinem Nacken machte sich noch breit, bevor es schwarz wurde, er sein Bewusstsein verlor.