Lauf (Rohfassung 2)

Lauf (Rohfassung 2)

Lauf (grundversion, wird noch teilweise geändert)

Ich hetze wie ein Tier durch den dichter werdenden Wald. Nicht nur ähnlich einem Tier, nein, ein Tier BIN ich geworden. Vorbei an tiefhängenden Ästen, die meine Stirn wie Peitschen zerschlagen, unter Büschen voller Stacheln, durch den Schlamm, der sich in meiner zerrissenen Jeans sammelt. Mit Minute zu Minute werde ich mehr und mehr zum Wolf, zum Wesen ohne menschliche Züge.

Ich höre, rieche die Hunde, die sie auf mich hetzen, lausche dem Gebell und dem Geheule auf den Strassen rund um den Wald.

Wo bin ich gelandet? Ist dies nicht die schöne neue Welt, der ich angehören wollte? Der ich alles opfern, die ich einfach lieben wollte.

Wenn ich mich an die letzten Minuten erinnern soll, bleibt nur der Schrecken, der mich durchzuckte, als die Tür meiner kleinenWohnung aufgerissen, ich ins Scheinwerferlicht gezerrt wurde. Speichel und Erdbrocken trafen mich hart, als ich die Treppe auf die Straße herunterstolperte. Und das Geschrei. Einfach nur dieses laute Gebrüll tausender aufgerissener Münder.

Was hatte ich getan? War ich ein schlechter Bürger gewesen? Hatte ich mich am Gesetz vergangen? Zu früh bei Grün losgefahren? Zu unfreundlich gegrüßt? Zuviele verheiratete Frauen angemacht? Ich habe doch nur mein kleines Leben gelebt, mit niemandem gesprochen, ohne gefragt zu werden, Dutzende Überstunden abgerissen, war stets nett und freundlich. Mein Leben war eintönig, langweilig, aber es war einfach OK!! Was soll man sonst in der Grossstadt tun? Leute kennenlernen, die täglich den gleichen Job machen? Autos waschen?

Ich war einer von Euch!!!

Wie lächerlich meine Gedanken waren, wurde mir mir erst klar, als ich vor dem Tor stand. Dieses verdammte Tor, von dem ich so lang geträumt, mich davor gefürchtet hatte: ein gußeisernes Versprechen unaussprechlicher Qualen. Ich sah es nicht gern, wenn die Sendungen auf den staatlichen Fernsehsendern liefen, in denen genüsslich, sadistisch von den grauenhaften Qualen erzählt wurden, die den armen „Kandidaten“ sowohl Fleisch als auch jeden Rest der Seele verbrannten. Vermutlich war ich zu empfindlich.

Und nun war ich einer von ihnen geworden, ein „Kandidat“, grundlos als Verbrecher, als Vernichter an der Zivilisation, geohrfeigt. Im Hintergrund lauschten zehntausende Zuschauer einer der erfundenen Geschichten, in denen der „Kandidat“ der „Volkswirtschaft unaussprechlichen Schaden zugefügt hat“. Ich begehrte nicht auf.

Rüde wurde ich an das Tor gepresst. Regentropfen perlten von meinen Augen langsam die Metallstangen herunter. Heisser Atem kroch mir in den Nacken, eine leise, fast sanfte Stimme flüsterte mir ins Ohr…. ich verstand es nicht… es war zu laut, es war einfach zu laut für mich….

Das Tor ergab sich dem Druck dutzender Hände und ich wurde mit einem Tritt in die Einsamkeit befördert. Es war dunkel. Es war kalt. Es war furchterregend.

Ich stolperte. Lichter blitzten, Applaus wogte auf. Ich zitterte unter dem Toben unzähliger Menschen.

Dann fing ich an zu laufen, weg vom Lärm, weg vom Schmerz, der sich in meinen Rücken presste.

Immer tiefer in den Wald, immer tiefer ins Ungewisse, in die Verdammnis.

Die Hunde nah an meinen Fersen, sie schnappen nach mir, erwischen mich nicht, bellen wütend…. da ein Abgrund: der einzige Weg: der Schritt nach vorn

Ein gewaltiges, wahnsinniges Lachen kriecht aus meiner Seele, ich kann mich nicht mehr beherrschen, beschleunige noch einmal und springe….

Als wäre in diesem Moment alles um mich verstummt, höre plötzlich – endlich- die Worte des Fremden, bevor er mich in die Finsternis trat:

„Willkommen in der Freiheit“

© Emanuel Mayer, 14.04.2006

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