Jason und die Finsternis

Jason und die Finsternis

Er sagte, dass er um exakt 23:30 Uhr da sein würde. Mit einem Koffer voller Geld. Ja, das hatte er gesagt. Koffer und Geld in einem Satz.

Er ist nicht da. »Ich komm mir verarscht vor«, sagt Jason immer und immer wieder. Seine Worte hallen von den kahlen Wänden der ehemaligen Fabrik wider. Einzelne Kabel schwingen umher, erinnern an Saiten einer zerbrochenen Harfe. Es ist kalt. Der Wind schleicht durch die Löcher, dort, wo einst Fenster waren. »Verarscht«, lacht er, »VERARSCHT!« Nikotingelbe Straßenlichter brennen Schattenspiele auf den Boden; direkt neben der Tasche. Diese verdammte Tasche. Wiegt gefühlt nen Zentner, doch was tut man nicht alles. Warten.

»Fuck!«, Jason braucht die Erinnerung an sich selbst. Hier kann man verlorengehen. Es gibt genug bessere Orte in Berlin, doch das war nicht der Plan. »Pläne sind Regeln und Regeln sind gut.« Doch das bringt jetzt nichts, dieses ganze Gejammere. »Verfickte dreiundzwanzigunddreißg!« Seine Fäuste knirschen. Seine Handfläche brennt noch immer, der Puls rast durch unter der Haut entlang. Er hätte Handschuhe mitnehmen sollen. Das wäre besser gewesen. Für eine Mainacht ist es ziemlich kalt. Er hätte auch ne andere Jacke mitnehmen sollen. Er hätte, hätte, Fahrradkette.

Hätte auch den Typen nicht killen sollen. Ist aber nunmal passiert. Hat sich blöderweise mit seiner eigenen Pistole in den Bauch geschossen. Hätte das Ding einfach loslassen sollen. Aber dann kam der Schuss und die Augen des Wachmanns starrten ihn an, als wäre er der Weihnachtsmann oder so in der Art und dann war er weggekippt. Die Alternative wäre gewesen, ach was, Alternative Walternative, Blut überall und es suppte raus und auf Jasons Klamotten. Gut, in Berlin interessiert es eh keine Sau, wenn man aussieht wie ein Zombie.

Museumskram ist immer so ne Sache. Es gibt genug Idioten, die wollen Zeug haben, das dem »Staat« gehört, als ob der Ahnung hätte, was etwas wert ist. Für teure Sachen gibt’s einen Wachmann, der auch noch blöderweise ne eigene Schusswaffe dabei hat. Ist das nicht illegal?

Wieder lacht Jason. Der Schock wird irgendwann kommen. Reine Erfahrung. Bis dahin hat er schon die gute Flasche Wodka aufgemacht oder Rum oder Tequila, die er sich von einem Bruchteil seiner Belohnung kaufen kann. Fünftausend Euro. 5.000 Stücke Metall oder Scheine, was auch immer. Es würde den Typen nichts ausmachen, wenn er sich nicht an absolut alle Vorgaben gehalten hätte. Kein Mensch interessiert sich für den Weg, alle wollen nur das Ziel. Und das Ziel heißt: Bring uns ein Stück Holz.

Kein normales Stück Holz natürlich. Das wäre wertlos. Genauso wertlos wäre es, wenn er den Typen gekillt hätte und keine Sau vorbeikommt mit der Kohle. Nicht, das Jason sich Sorgen machen würde, ob man ihn töten würde. Nein. Jason ist kein Idiot. Jason zeichnet alles auf. Jason ist vorsichtig. Der Schatten von Jasons Kopf nickt im Staub. »Fuck!« Der Staub wirbelt auf, als Jason zutritt, »verfickte Scheiße!«

In der Ferne dröhnt eine Bahn, doch hier bewegt sich nichts. Flocken von Blut flattern, als Jason seine Hand ausstreckt. Er hätte den Schlüssel nicht anders bekommen könne, doch, wie schon gesagt: In Berlin kann man jede Maske tragen. Die hat er weggeworfen, als er aus dem Museum kam, welches auch immer nicht offiziell offen ist. Noch nicht. In einer Woche, sagte sein Auftraggeber, ein stiller Mann. Ein Mann mit Joggingklamotten und Dackel. Dafür hatte seine Brille Goldrand und seine Finger waren lang. Ein Mensch, verwirrend neben der Spur. Hat der die Zeit vergessen beim Gassiführen? Was für ein Wichser.

»Genau 23 Uhr und 30 Minuten.« Der Zettel war eindeutig. Ort und Zeit des Diebstahls. Codes für die Hintertür. Ort und Zeit der Abgabe. Für schlappe 5.000 Euro. »Wenn das so weitergeht, nehme ich 10 Riesen«, hört sich Jason flüstern. Seine Stimme wirkt fahl hinter der Stille, als wäre seine Angst ein Teil der Wirklichkeit geworden.

Knackt was? Sind das Schritte? Jasons Füße verfangen sich in der Tasche, er taumelt kurz. Der Balken hält ihn auf. Seine Hände knirschen, als er sich abstößt. Der Kupfergeruch des Toten hängt an ihm wie ein Fluch. Die Waffe liegt in der Spree, aber nicht der Ausdruck des Entsetzens über seine Tat. Pah. Alles Luschen.

»Ich will mein Geld!«, brüllt er. »Nimm den Pfahl, du Wichser!« Seine Angst ist wieder da, ein Kissen über seinem Mund. Eine Faust, die sein Herz zusammendrückt. Ist er vielleicht schon hier, dieser Typ mit Hund und Goldrandbrille? Wartet er, bis Jason wahnsinnig wird?

Es ist nicht das erste Mal, dass er allein ist, hier, in einer solchen Halle. Das letzte Mal war es einfacher. Er war angeheitert, nein, besoffen. Die anderen waren verschwunden, hatten sich in Ecken zurückgezogen, die er nicht einsehen konnte, hatten ihn einfach alleingelassen. Das war erst letztes Jahr gewesen. Oder vielleicht doch vor 10 Jahren?

Seine Füße treiben ihn herum, während die Muster, die er sich herumschleppt, ins Gruselige wandern, eine Landkarte malen, die keinen Sinn hat und trotzdem was bedeuten müssen. Alles Linien wickeln sich um die Tasche mit dem Holz drin. Das dumme Holzstück. Damit kann man jemandem beide Augen ausstechen! Oder das Ding einfach verbrennen. Schade, dass Jason nicht mehr raucht. Das wär was. Fünftausend Euro einfach verbrennen. Und dann kommt der Typ. »Sorry, aber mir war kalt.«

Erst eine gefühlte Ewigkeit später merkt er, dass er die Tasche anschaut, dass er geradewegs besessen ist von ihr. Nicht von ihr, sondern vom Inhalt. Wer zahlt soviel Geld für Holz? Es muss was Besonderes sein. Es gab schon ein Problem, doch das liegt irgendwo in den Ecken von Jasons Kopf, hat sich versteckt, weil es falsch ist. In dem Augenblick, in dem er es aus dem Zimmer holte, mit dem blutigen Schlüssel des Wachmanns, hatte sich etwas getan.

»Es hat gebissen.«

Nein, hatte es nicht. Es hatte ja keinen Mund oder sowas. Trotzdem hatte es sich so angefühlt, als wäre das Ding mit Leim behandelt worden oder so, Säure und Leim. Fast hatte er sich die Haut von der Handfläche gerissen, doch es ging dann doch, mit viel Mühe, als hätte es sich freiwillig entschlossen, loszulassen.

Er hätte was trinken sollen. Aber heute wollte er nüchtern sein. Nein, er ist pleite. Ja, Jason ist pleite. Deshalb wartet ein dummer Jason auf Geld von einem Mann mit Hund. Dummer, dummer Jason.

Es rappelt. Nicht die Welt. Nicht jemand, der vor dem Gebäude steht und durch das Tor will. Es ist offen. Es … rappelt. Es bewegt sich. Es wartet. Das liegt am Entzug. Ganz sicher. Stress und Entzug und Hunger. Verdammter Hunger. Ja. Das ist es. Hunger. Ein Feuer, das Jason bisher ignoriert hat, wird zu einem Problem. Magen. Will. Essen. Jetzt!

Vielleicht ist in der Tasche was. Hat er da nicht …? Nein, sicher nicht. Doch er sieht seinen Schatten, wie dieser auf die Knie geht und er folgt dem Ruf. Kann ja nicht schlecht sein, nicht wahr? Der Reißverschluss der Sporttasche öffnet sich langsamer als gedacht, als würde er mit sich selbst kämpfen. Aber wozu das?

»Hallo, ist da jemand? Ich bin spät dran. Sorry!«, ein Lichtkegel wandert über die Wände hinweg, doch Jason hört es nicht. Er sucht. Findet. Lächelt.

Eine Hand schießt aus der Finsternis empor, packt sein Gesicht. Nein! Sie biegt seine Nase zur Seite. Es knackt. Die Schmerzen brüllen ihren Weg durch seinen Kopf. Keine Luft! Die Hand wird eins mit seinem Schädel, kochender Teer aus den Tiefen der Hölle schiebt sich in seinen Mund, füllt ihn vollständig aus, bis seine Zunge zerfällt, Millionen Nervenzellen, die gleichzeitig ihren Geist aufgeben, nicht ohne einen letzten Schrei in sein Hirn abzugeben, das bereits völlig aufgegeben hat, als sich eine Gestalt an ihm emporzieht, aus dem Inneren einer Tasche, die bis auf das Stück Holz völlig leer war. Jason wirbelt herum, sein Körper weiß nicht, dass er bereits fast tot ist.

Fast schon upassenderweise zerrt er sein Handy aus der Tasche, schlägt mit seiner freien Hand immer wieder auf die Kreatur ein. Es hilft nichts. Knöpfe werden gedrückt. Eine Stimme ertönt aus dem Lautsprecher.

»Fassen Sie den Pfahl nicht an. Nehmen Sie Handschuhe mit.«

Dann die andere, die eigene: »Ja, sicher. Wie Sie wollen.«

»Ich meine das ernst. Seien Sie vorsichtig. Es ist älter als alles, was Sie bisher gesehen haben. Bitte.«

Dann ein Lachen. Ein dummes Lachen, das zerrinnt, als das Wesen das Telefon verschluckt, ebenso, wie es Jasons Ohren und Kehlkopf schmilzt. Jason fühlt, wie sein rechtes Auge zerrissen wird, doch es ist unerheblich. Bahn um Bahn, als würde jemand aus einem Wasserfall hervortreten, schiebt sich ein Bild in die Wirklichkeit, nein, ein Zwilling. »Das bin ich«, flüstert sein Verstand, ist er fort.

»Hey«, ruft der Mann mit der Goldrandbrille, »Ist da jemand? Jason? Ich hab das Geld dabei.«

»Sicher«, ruft Jason und schließt die Tasche. »Hast dir ja Zeit gelassen.« Er richtet sich auf. Es klickt.

»Fassen Sie den Pfahl nicht an. Nehmen Sie Handschuhe mit.«

»Ja, sicher. Wie Sie wollen.«

»Ich meine das ernst. Seien Sie vorsichtig. Er ist älter als alles, was Sie bisher gesehen haben. Bitte.«

Jemand lacht. Der Mann mit der Brille reißt die Augen auf.

»Er ist nicht von dieser Welt. Er ist fremdartig. Er ist sicherlich gefährlich. Vielleicht ist er sogar böse.«

 

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