Die Lawine – eine Gegenfabel

Die Lawine – eine Gegenfabel

Es hing ein Echo über den Bergen. Steine polterten noch immer über die trockenen Hänge, unaufhaltsame Schläge, die Sträucher und Bäume mit sich rissen, als wären sie einfach nie dagewesen. Splitter schwebten für Augenblicke über die brodelnde Landschaft, erinnerten an winzige Schiffe, die ankerlos über ein Meer aus Zerstörung und Wut geworfen wurden. Die Luft war erfüllt vom Brüllen der Erde, die sich wie eine Schlange häutete, ob sie wollte oder nicht.

Blanker Felsen leuchtete unter den frischen Wunden. Sonnenlicht kroch nur langsam durch die Wolken, die sich immer weiter in den einst so blauen Himmel schoben. In der Ferne jaulte Wolf, das Rudel Wölfe, panisch in ihrer Flucht, beachtete ihn nicht weiter. Ihre Läufe verloren sich im Tumult der Panik. Hunderte, wenn nicht sogar tausende Tiere rannten um ihr Leben. Eine Flut aus Geröll bahnte sich ihren Weg, als wäre sie lebendiger als die Kreaturen, die ihr entkommen wollten. Doch nur der Blick konnte ihnen noch helfen. Jeder Blick zurück war ein Urteil, vom Schicksal verhängt, »Schuldig im Sinne der Anklage«. Und so taumelten Wellen aus Fell und Pfoten über die staubumnachteten Hänge hinab ins Tal.

Hier warteten sie. Zusammengepresste Augen, die durch Fernrohre starrten, Linien zwischen Kimme und Korn erdachten, fixierte Augen, die nur ein Ziel hatten. »Töten«, wimmerte ein Mann, sehnsüchtig zusammengesunken hinter seiner Doppelläufigen, die Zigarette am Filter zerkaut, halbblind vom Rauch, der sein Blickfeld verschwimmen ließ. Andere taten es ihm gleich, nahmen noch einen Schluck aus der gemeinsamen Flasche, spuckten ihren Abscheu und ihre Gier auf den Boden. »Geld«, flüsterte jemand, »soviel Geld für ihn.«

Dutzende Augenpaare starrten auf den kommenden Sturm, suchten einen Schatten, der sich ihnen offenbaren sollte, die die Gestalt eines Mannes haben sollte, der sowohl gefürchtet als auch verehrt wurde. Doch es war viel zu spät, sich daran zu erinnern, dass er als Fremder in die Stadt gekommen war. Stadt, ha! In das Dorf, ein Dutzend Häuser, eine Kneipe, eine Kirche, eine Straße. Er hatte Geld mitgebracht und Hoffnung, hatte alles getan, was er hatte tun können, damit sie ihn mochten. Ein Fremder, der zum Freund geworden war. Doch alles war vorbei, jetzt nach fast 7 Jahren hatte das Unglück die Kleinstadt besucht und hatte andere Fremde angespült und sie hatten ihren Freund als einen Feind erkannt, als Schurken unvergessener Verbrechen, als Kopf hinter unzähligen Raubzügen. Manch einer sang heimlich Lieder über ihn und seine Gang, aber nur heimlich, nur in seinem neuen Bett, unter der Decke, wo man allein sein konnte mit seinen Träumen. Als er erkannt worden war, hatte er zwei Tote zurückgelassen und eine Karte. Die Fremden sagten, es wäre ihr Gold und jeder, der ihnen helfen würde, könnte reicher werden als ein Rockefeller. Allerdings wäre auch jeder tot, der sich ihren Wünschen verweigern würde.

Doch Gründe versickerten im Donner des Weltuntergangs vor ihren Gewehren, die wie Verrat brannten. Er war auf dem Berg. Er musste runter vom Berg. Hätte er sich nicht verschanzt, wäre alles in Ordnung gewesen. Wäre er nur weit weg geflohen, hinunter in die endlosen Ebenen dieser neuen Welt, aber nein. Er musste in die Mine, dort, wie die Fremden ihnen versicherten, wo er das Gold versteckt hatte. Garantiert, eine sichere Sache. Prügeln wir ihn raus aus seinem Loch wie einen Fuchs.

Der erste Mann wich zurück. Seine Augen brannten, Panik kreischte seinen Weg in die Welt hinaus. Jemand schoss. Er fiel. Feigling. Die anderen starrten auf die wirbelnde Mauer aus Tieren und Bäumen. Da. Da war jemand. Ein Mensch rannte, wie von der Hölle verfolgt, hinunter ins Tal. War er es? Konnte er es sein? Sein Gesicht, so völlig unsichtbar, absolut winzig im Schauer, der ihm folgte. Wie konnte er so schnell sein? War er schon vorher losgelaufen? Hatte er sich geopfert? War er blödsinnig geworden? Niemand wagte, diese Fragen zu stellen, doch viele dachten wohl dasselbe. Ein Hagel aus Blei raste durch die Dämmerung, winzige Sterne blitzten an den Läufen der Waffen auf, vergingen wieder, doch er rannte weiter, als wäre nichts gewesen. Wellen von Schüssen folgten, verfehlten oder trafen, was auch immer passierte, bleibt unbekannt.

Der Tod überrollte nicht nur die Menschen, die sich einst in seinem Licht und Geld gesonnt hatten, sondern auch ehemalige Kameraden auf der Suche nach Abenteuer und Gold und manch einer sagt, dass der Fremde bereits von der unterschätzten Wirkung des Dynamits umgekommen war, die jemand ohne echte Kenntnis in den Mineneingang geworfen hatte und von der Lawine danach bis ins Tal getragen wurde, zu seinen Freunden, die sein Schicksal teilen sollten. Manch einer mag eine Moral aus dieser Geschichte ziehen, doch am Ende bleibt alles daran hängen, ob man Glück auf der Flucht hat oder einfach hofft, sich in einem Berg zu verschanzen und auf das Unabwendbare zu warten.

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