Dämon – Kapitel 8 – Achim

Dämon – Kapitel 8 – Achim

Wie gerne würde er ihm nochmal die Faust in den Bauch rammen, aber diesmal deutlich schneller, effektiver, einfach besser. Er hatte nicht gedacht, dass es sich so lohnen würde. Man würde meinen, dass es einen Unterschied macht, wo man ihn trifft, aber die Trefferzonen lagen weit genug auseinander, um eine ordentliche Berechnung der anderen Teile des Körpers zu erzeugen, außer Knochen. Knochen sollen mistig sein, der falsche Treffer und bam, hat man einen oder zwei Finger gebrochen. Oder das Handgelenk auch. Dabei braucht er es.

Sie zerren den Irren auf die Straße und pflanzen ihn in den Krankenwagen. Eine Menge Schaulustiger ist erschienen, passiert nicht alle Tage, dass jemand so vollständig ausrastet, besonders ein Hipster. Dieser neuste Versuch, sich von den normalen Leuten, den Spießern abzusetzen, ist so gründlich in die Hose gegangen wie die Erfindung eines neuen Autos oder eines Kaffeegetränks mit Gurkengeschmack. Er muss das aufschreiben. Seine Worte sind selten so intellektuell-sarkastisch, muss am Adrenalin liegen, an der Erinnerung der Schläge, die er diesmal ausgeteilt hat. Hätte die Projektion auf seine Bullies, seine Mobber aus der Schulzeit, mag sie auch 30 Jahre her sein, besser funktioniert, wenn er munterer gewesen wäre? Sicher, aber im Halbschlaf sind Gesichter kreativer und er kann sich auch nicht wirklich an die der Leute damals erinnern. Klassentreffen lässt er sowieso immer ausfallen.

Die Menge schreit auf, als der Irre einem seiner Rettungssanitäter einen Fußtritt verpasst, der ihn rückwärts aus dem Wagen treibt. Der knallt nun mit dem Rücken auf die Straße. Der andere, es sollen ja immer zwei sein, wirkt verwirrt, kann sich wohl nicht entscheiden, was dem Durchgeknallten die Chance gibt, den Gurt zu lösen, der ihn an die Bahre fixieren soll, ha, nun springt er auf den Gehweg, die Augen fallen ihm fast aus dem Gesicht, während er beginnt, mit den Armen zu schwingen wie ein riesiger Gorilla im Aggro-Modus. Die Leute weichen zurück, Panik pflanzt sich wie eine Laola-Welle fort, das Meer teilt sich, als sie merken, dass er an eine bestimmte Position will.

„Warum hast du das gemacht, Vater?“ fragt der Wahnsinnige und bohrt seine Fingern in den Brustkorb seines Bestrafers. Was soll er tun, was kann er tun? Jahrelange Therapiestunden fallen von Achims Gesicht, seine Augen zerknittert, die Mundwinkel zucken, der Terror hat sein Rückgrat in eine Wand aus Eis verwandelt. „Äh“ ist das Einzige, das er äußern kann, irgendwie jedenfalls. Alle starren ihn an, nicht den Kranken, nein, ihn, nur ihn und als der dann noch näher herantritt, ihm tief in die Augen starrt, den Atem von Kaffee und Blut in seine Nase bläst, beginnen Achims Tränen zu fliesen, ohne dass er es will. Die Welt wird es sehen. Das ist die Rache für die Schläge. Karma ist eine Schlampe. Er hat doch nur, er wollte doch nur… „Auch du, Brutus!“ kichert sein Alptraum, wirbelt herum und rennt los, auf den Rettungswagen zu, weicht ihm aus, durchbricht die Schranke der Leute, die an der Ampel warten und ist schon fast auf der Mittelspur, als ein Bus nicht mehr bremsen kann und seinen Körper mit saftigem Knall erwischt. Reifen quietschen und für einen Augenblick kann Achim sehen, dass sein Peiniger eine Art Gotteserlebnis haben muss, denn der Tod steht neben ihm, hält seine knochige Hand auf dessen Schulter, während ein Licht die beiden einhüllt wie ein Heiligenbild, bis er zu Boden fällt und sein Kopf Bekanntschaft mit einem Kleinwagen Marke „1 Mal gekauft, 20 Mal repariert“ macht, dessen Fahrer das Handy fallen lässt. Berlin schweigt für einige kurzen Augenblicke, bis jemand aufruft „Der Alte hat eingepisst!“ Sie starren auf ihn, den Freak und erst jetzt merkt er die nasse Wärme. Sie lachen. Sie lachen, mein Gott, warum… sie… er, er… sie sollen seine Tränen nicht sehen. Er wandert rückwärts durch die Menge, die ihn nun ausgestoßen hat, dreht sich um, wird schneller und schneller, fleht und betet um Vergebung.

Erst an seiner Haustür, die zum Glück ein paar Straßen weiter ist, dreht er sich um, nur ein paar Kids sind ihm gefolgt, gut, die haben eh keine Ahnung. Als sich die Haustür hinter ihm schließt, ist die Hälfte geschafft. Seine eigene Dummheit! Seine Dummheit! Er ist böse. Seine Faust knallt noch ein paarmal gegen die Hauswand, hinterlässt rote Spuren. Gut. Sein Wohnungsschlüssel stinkt nach Pisse, aber das ist jetzt nicht wichtig. Wichtig ist, dass er in Sicherheit ist. „Bist du das?“ fragt die Stimme aus dem Wohnzimmer. „Ja, Mutter“ antwortet er, ist aber schneller in seinem „eigenen Zimmer“ als sie sich aus dem Sessel erheben und ihn begrüßen kann, eine Augenbraue hochgezogen unter der verrunzelten Stirn wie immer, den Mund mürrisch, die Zigarette halbgeraucht und das in seiner Wohnung… nein, in ihrer. Er zittert noch immer, als er neue Klamotten aus dem Schrank zerrt, den Schandfleck seines Tages, ach, seines Jahres in die Wäschetruhe wirft, bittet, betet, dass sie es nicht bewusst mitbekommt durch ihre vom Zigarettenmissbrauch verbrannten Nasennerven. „Mein Gott, haben sie alles aufgenommen?“ Zeitlupenaufnahmen rasen durch seine Erinnerung, er zittert, taumelt rückwärts, das Zimmer zieht an ihm vorbei wie selten zuvor und er fällt ins Bett, kracht mit dem Kopf gegen die Wand, der Schmerz lähmt ihn. „ist alles in Ordnung?“ fragt Mutter. „jaja“ murmelt er, dann kommen die Tränen wieder. „Jaja“ sagt Mutter vor der Tür, „ich weiß was das bedeutet! Das heißt, dass du mich anlügst!“ Sie klopft an die Tür. Nichts von seiner Seite, doch er starrt die Türklinke an wie ein Tier, dass aus seinem Bau lugt, nur um zu erkennen, dass das Raubtier mit gefletschten Zähnen auf ihn lauert. „Ich hab abgeschlossen“ brüllt er endlich los, ein hilfloses Quieken ist doch nur zu hören. Die Türklinke verharrt halb heruntergedrückt, hebt sich wieder. „Komm, wenn du fertig bist… mit was auch immer du tust…“ sie stampft davon, sie ist sauer, richtig richtig sauer. Sie wird später, wenn sie sich beruhigt hat, weiterhin so tun, als wäre sie anders als sonst, aber sie ist immer so: eine Mutter.

Sein Handy klingelt, vibriert nur, niemand traut es sich, in der Nähe der 60 Jahre alten Frau ein Telefon klingeln zu lassen. Es folgen dann um die 12-18 Stunden Dauermigräne (mit Aura natürlich) und die Stimmen werden lauter, die Stimmen in ihrem Kopf, die natürlich kein anderer hört. Das war immer so. Als Kind hatte er sich schnell nicht mehr erlauben dürfen, überhaupt zu weinen. Sie hatte immer Mittel und Wege…

Seine Faust blutet, nur ganz sachte, die Knöchel brennen, besonders von Schlag Nummer zwei, der wäre nicht notwendig gewesen, aber Achim hatte sich so selten so gut gefühlt wie in diesem Augenblick. Aber Hybris, mein Freund, ist ein Tor, das man viel zu schnell durchschreiten kann und dann pisst man sich… oh Gott. Die Kids. Kameras, Handys, Drohnen, Satelliten, die Augen der Welt sind elektronisch und er… nein, er wird nicht zu seinem Computer gehen (neustes Modell, ein Geschenk, Mutters Flehen, dass er sie nicht verlässt, aber wieso sollte er?) und ihn auch nicht einschalten und sich auf Youtube einloggen oder auf Liveleak, denn was ist schlimmer? Bilder sind schnell da draußen und jeder kennt ihn, zumindest jetzt. Gottseidank hat Mutter nichts elektronisches in ihrem Leben ausser ihr Radio und ihre Mikrowelle, deren Strahlen Aliens anlocken werden und vielleicht noch ihren Fernseher, aber er wird nicht so dumm sein, ihn einzuschalten, den großen alten Fernseher in der Stube, denn dieser ist nur dafür da, dass Mutter die alten Videos anschaut, Videos einer Karriere, die andere nichtmal mit dem Arsch angucken würden. Damals gabs keine Talkshows, keine Streamingportale, nichtmal Videokassetten, nur ein paar alte Filmrollen, die den Verlauf der Weltgeschichte nur so nebenbei überstanden haben. Die 70er Jahre waren halt ein Film für… eine Zeit für Filme, keine Filme für eine Zeit, mein Gott, sein Blutdruck rast, sein Hirn setzt aus, er starrt durch die Gardine, die die Betreuerin/Putzfrau vor 3 Monaten das letzte mal gewaschen hat, nach draußen. Er muss eine rauchen, irgendeine. Er zerrt das Fenster auf, stellt sich so dicht ran, dass der Rahmen nicht zerbricht und zündet sich eine Fluppe an. Mutter merkt es garantiert, aber sie hat ihm zumindest in diesem Gebiet eine gewisse Freiheit gewährt, dass er alles tut, dass sie nicht an Lungenkrebs stirbt. Achim bittet darum, selbst daran zu sterben, damit er das Gejammere der alten Frau nicht mehr hören muss, doch die Zweifel, dass nach dem Tod keine übergeordnete Richterstube ihn in den Zaubergarten lässt, ist stark, zu stark, um für ein grausiges Ableben zu beten.

Mutter poltert wieder. Er zittert. Hat er sich nicht langsam daran gewöhnt, nie Glück zu haben? Er wirft die Zigarette aus dem Fenster, versucht, niemanden zu treffen. Auch wenns egal ist, man weiß unter Umständen, wer er ist: Sohn von Ursula LaPriese. Und er heißt Achim. Es gibt so wenig von seinem Vater zu wissen, einem verschwundenen oder verschollenen Regisseur oder vielleicht auch Kameramann oder Ausstatter, jedenfalls niemand besonderes, den man finden will und fragen könnte, was er seinem Sohn so anbieten könne, außer Sohn zu sein und irgendwelche Hilfsarbeiten zu tun. Aber er will doch gar nicht zum Film. „Nicht gut genug“ sagt er sich immer wieder, während er bei offenem Fenster zum Schreibtisch wandert, um ihn herum die Möbel seiner Kindheit, stickerüberzogene Sperrholzmöbel, ein Bett, der Computer, ein Stapel Bücher, den Rest hat er eingelagert, als Mutter anfing, mehr und mehr Platz in Beschlag zu nehmen. Man mag meinen, dass alte Leute zurückhaltender werden im Alter, aber je mehr Lebenszeit verschwindet, desto mehr hält man sich an der Realität fest. Durch Kaufen, Sammeln, Stehlen. Nicht selten hat Achim sie erwischt, als sie versucht hat, irgendwelche Sachen von der Straße mitzunehmen, die ihr nicht gehören. Der Streit war unvermeidbar, aber er hatte gewonnen. Das aber nur sehr selten. Sie droht, ihn rauszuwerfen. Er lächelt. Er zieht nicht aus. Sie würde sterben, würde er ausziehen.

Und sie würde sterben, wenn sie mitbekommt, dass er sich vor den Augen der Welt „eingenässt“ hat. Mama-Sprache für „eingepisst“. Ein schlechtes Auskommen für den Jungen, der soviel Potential hatte. Alles verschwendet. Potential, HAAA! Außer einer 0815-Ausbildung und dann ein paar Testauftritte im Theater, natürlich unbezahlt, hatte Achim irgendwann keinen Bock mehr. Tja, Pech, Mama, dass ich dich so enttäuscht habe.

Er zischt ein stilles „Fuck!“ in Berlins Luft hinaus. Er hasst die Stadt. Er braucht die Stadt. Sie braucht ihn aber nicht. Er braucht aber Mamas Geld. Ein paar Monate hatte er überlegt, ein Verbrecher zu werden. Ein Supergenie war er ja nie, aber alle Pläne hatten sich schnell aufgelöst, als es danach ging, in soziale Konflikte zu geraten, mit Leuten sprechen zu müssen. Was sollte er tun, wenn sie ihn auslachen, wenn er vor einer Gruppe Leute steht und Geld verlangt? „ich bin ein Feigling“ hatte er sich immer wieder gesagt, als er sich unter seiner Daunendecke einen runterholte, Fantasien vorbeifliegen liess wie unaufhaltsame Wolken. Nichtmal DIE kann er kontrollieren, wie also einen echten Menschen?

Er öffnet die Tür in den Flur und schaut sich um. Der Fernseher läuft, die Lautstärke auf Stufe 2 oder 3, je nachdem, ob Mama schwerhörig ist oder ob sie wieder an Migräne leidet, aber heute ist sie nicht im Wohnzimmer, denn er hört ihre Stimme in der Küche. Sie telefoniert, blickt dabei auf ein paar Blätter Papier, die auf dem Küchentisch liegen. Soll er sie fragen, was sie tut? Sie wird ihn schlagen, natürlich nur mit Worten, aber wenn hier irgendwas… sie hat aufgelegt. Sie legt das Telefon auf den Tisch, schiebt die Blätter zusammen, „puh“. „Mom?“ fragt er. „Deine Hände bluten“ sagt sie. Er nickt, „Wer war das?“ Sie streift sich mit ihren Altfrauenhänden den Pullover zurecht, legt ihren Kopf zurück. „Ich habe einen Auftritt. Deine Hände bluten.“ Sie zerrt eine Schublade auf, holt ein Päckchen Pflaster, „setz dich.“ Er folgt ihrem Befehl. Sie ist eine Mutter. „Und ja nicht knaubeln.“ sagt sie. „Ein Auftritt?“ fragt er endlich. Sie wirft die Reste in den Mülleimer. „Ja. Etwas großes, etwas wichtigeres.“

Wichtiger als was? „Wie bitte?“ fragt er. „Es ist nicht in Berlin. Es ist natürlich in Köln.“ Sie hätte nichts schlimmeres sagen können. „Köln?“ fragt er. Was soll er… wie soll er. „Wie soll… ich?“ „Du? Du? Bist du nicht 40 oder so?“ Hat sie vergessen, wie alt er ist. Natürlich nicht, spitzzüngige Hexe die sie ist. Sie erinnert ihn an diese Frau aus 2,5 Typen im Fernsehen. Nur dass seine Mutter deutlich weniger erfolgreich ist als die Frau auf dem Bildschirm. „Sei doch mal kein Kind mehr!“ sie stampft aus dem Zimmer, lässt ihn zurück. Sie wird Berlin verlassen und dann was? Darf er mitkommen? Hierbleiben? Wird sie die Wohnung verkaufen? Was ist mit „MIR“? Das Karussell in seinem Kopf beschleunigt, spielt grausige Jahrmarktsmusik. Das passiert… oft, aber nie so laut wie jetzt.

Jahrzehnte verschwinden, er ist wieder ein kleines Kind, alleingelassen in einem Keller voller Schatten, Mama irgendwo oben oder auf Arbeit oder beim… Dinge tun.

Er kann noch immer das Badewasser spüren, das ihn einhüllt, ihm die Kraft raubt, ihn leersaugt. Er ist 5 Jahre alt. Die Dämmerung legt sich über das Land und das kleine Fenster, das den Raum beleuchtet, verfinstert sich mit jeder Sekunde. Er zittert. Er muss nicht fragen, ob man ihn vergessen hat, er weiß es. Er ist und war immer nur ein Anhängsel, ein unerreichbares Muttermal, ein Stück gutartiger Hautkrebs. Ha, gutartig.

Doch nun ist er älter, viel älter und noch immer unfähig, zu sagen: Nein, Mutter, ich werde das nicht zulassen. Und wenn er dieses sagen würde, dann würde sie lachen und ihm vorwerfen, dass er egoistisch ist, kindisch noch dazu und von ihrem Geld lebt und sie will, dass er auszieht, sonst holt sie die Polizei, eine Meinung, die ähnlich dämlich ist wie ein „Ich schaff dich ins Kinderheim.“ Sie sollte ins Altersheim, ha! Damit könnte er drohen, was genauso sinnlos ist. Nein, er muss es aussitzen. Sie wird es nicht durchziehen. Er könnte… er würde doch nicht… sich umbringen?

Es ist wieder da, das Spiegelbild seiner Leiche vor seinem inneren Auge. Eine theatralisch dahingeworfene Fleischpuppe, leblos, mit gebrochenem Blick, der in die Unendlichkeit starrt, und sie, ja sie, die ihn verlassen wollte, nicht einmal mehr schockiert, sondern völlig überwältigt von ihren Gefühlen, unfähig zu unterscheiden, was gespielt und was echt ist. Ja. Das ist gut. Er fühlt, wie sein Grinsen schmerzt. Gänsehaut zieht über seinen Rücken, eine heisere Wolllust überkommt ihn und er muss sich am Türrahmen festhalten, weil sein Kreislauf nachgibt. Das wäre ihr tiefster Schmerz, ihre grausamste Strafe, wenn er gehen würde. Mit oder ohne Brief, eher ohne letzte Worte, damit sie sich immer fragen wird, ob sie schuld ist. Natürlich wäre sie schuld! Ist schuld! IST!

Seine Zukunft liegt mit einem Mal so klar vor ihm, dass er sich fragt, ob es auch richtig sein könnte, sie zu ignorieren, sie auszublenden, vor der Lawine zu fliehen, die nur Augenblicke vorher nur ein Knistern im Schnee gewesen war und nun unaufhaltsam auf ihn zurast. Diese Frage könnte er dem Berg stellen, diesem totenstillen Monster, das in Milliarden von Jahren hinaufgewachsen ist in den Himmel, aber wozu? Geologie ist keine Biologie und besonders keine Theologie. Nichts ist verknüpft mit einem höheren Ziel, alles ist sinnlos, WENN man sich nicht selbst einen Sinn ausdenkt. Genausogut könnte er Schnapsleiche als Zukunftsbild planen. Oder jetzt… seinen Tod.

In seinem Zimmer angekommen, nimmt er einen Schluck vom günstigen Rum, dem günstigsten, den er finden konnte und legt die Flasche wieder in das Fach unter seinem Schreibtisch. Dem Ort, den seine Mutter nie öffnet, seitdem sie einmal ein Sexheftchen dort gefunden und sich so tierisch darüber aufgeregt hatte, dass sie einen halben Herzinfarkt bekommen hatte. „Wie kannst du nur Frauen so objektifizieren“ hatte sie gefragt. Er hatte sich zurückgehalten und sie nicht angeschrien, dass er wisse, was für Filme sie damals gedreht habe. Was nicht stimmte, denn es interessierte ihn einfach nicht, aber kein Mensch denkt jemals darüber nach, wieso eine Billig-Karriere einer Frau mit Anfang 19 beginnt und 2 oder 3 Jahre später endet. Bestimmt nicht wegen der grandiosen Schauspielkunst.

Noch ein Schluck, dann wird es wärmer in seinem Herzen, in seinem Magen, in seinen Fäusten. Er schaltet den Computer ein, wartet darauf, dass das sanfte Rattern der Festplatte stoppt, dann setzt er sich hin. Der Browser öffnet das Internet, ein paar Emails sind eingetroffen, mehr nicht. Mit zitternden Fingern beginnt er, die Suchmaschinen, die Videoportale zu durchsuchen. Dinge wie solche Ausraster oder Leute, die wie er sich auf offener Straße einpinkeln, wirken wie ein Steppenbrand, Ringe aus geworfenen Steinen in Wasser, wühlen es auf, bringen den dreckingen Grund zum Vorschein, wecken die Kreaturen in der Tiefe.

Und sie sind schnell. Sprachlos starrt Achim auf das Internet, das begonnen hat, ihn zu erkennen. Wackelnde Aufnahmen zeigen schwarze Flecke, die sich auf seiner Jeans bilden, ihn in einen Witz verwandeln, den alle zum Lachen finden, nur er nicht. Er greift sich in die verbleibenden Haare, die auf Video aussehen, als wäre er ein lebendiger Kaktus, ein Büschel auf fast kahlem Kopf, eine Puppe aus einer alten Serie. „Mein Gott“ flüstert er, „sie werden mehr.“ Jeder beginnt, aus dem vorhandenen Material etwas eigenes zu basteln oder die Szenen einfach immer nur zu kopieren, Endlosschleifen zu basteln, um Klicks zu sammeln. Es erinnert an einen Zombie-Film und er ist der Zombie, der sich einpisst.

Es dauert viel zu lang, die wieder normal zu denken. Aber was ist normal? Normal wie vom Hochhaus springen oder vor einen LKW oder sich vergiften.

Er hört das Scheppern der Klingel erst nach einer gefühlten Ewigkeit. Füße stampfen hinter ihm vorbei, agressives Gemurmel, die Tür öffnet sich. „Frau Senders“ sagt die Stimme. Achim flucht. „Oh Viola. Ist denn heute Montag?“ fragt Mutter. „Ja natürlich!“ Viola. Montag. Deshalb war er draußen gewesen, hätte eigentlich noch länger der Wohnung fliehen sollen. Viola. Die Sache mit dem Drogensüchtigen hat ihn vollkommen aus der Bahn geworfen und zurück in die Arena gebracht. Er kann ihre Schritte hören, die hinter seinem gebeugten Rücken enden. „Hallo Achim. Lange nicht gesehen.“ Er dreht sich um. Sie lächelt. Sie lächelt immer. Liegt das an ihrem Alter? Sie ist um die Mitte 20, er hat nie gefragt, sie wirkt jedenfalls so naiv wie man sein kann, wenn das Leben einem die Verdauung eines Braunbären gibt, kurz vor dem Winterschlaf. Welcher Gott auch immer existiert, er hat versucht, die Aufdringlichkeit eines religiösen Fanatikers mit einer reinen Seele in einem Nilpferd zu verbinden. Ja, Achim weiß, dass er auch nicht gerade der schönste Mensch der Welt ist und das Schicksal ist scheiße, aber Viola hat sich in den Kopf gesetzt, Achim zu kriegen. „Viola“ lächelt er betroffen und sie nimmt das vermutlich als Zeichen seiner tiefen und verborgenen Zuneigung auf, denn ihr Lächeln wirkt wie ein Zirkuszelt an einem grellen Sommertag auf einem Dorfplatz tief in Mecklenburg-Vorpommern. „Ich hab dir was mitgebracht.“ sagt sie und reicht ihm ein Heft aus ihrer viel zu großen Handtasche. In der möchte Achim gerade verschwinden, nimmt aber den Packen Papier. „Ich meine, nachdem das heute passiert ist mit diesem Obdachlosen…“ „Was?“ fragt er, zittert mit einem Mal wieder zu sehr, um das Heft festzuhalten, es segelt zu Boden. „Ich habe das im Internet gesehen als ich hergekommen bin. Da waren ein paar Jugendliche, die haben es angeschaut.“ „Internet?“ hört Achim seine Mutter fragen, „was ist da los?“ Ihr Gesicht erscheint im Türrahmen. „Ihr Sohn wurde angegriffen von einem Drogensüchtigen. Jemand hat das ganze aufgezeichnet und ins Internet geladen. Das schauen viele Leute derzeit an.“ Viola ist so naiv wie schreckhaft, denn sie zuckt zusammen, als Mama nach vorn prescht und sich vor Achim platziert, die Hände in die Hüften gestreckt wie ein Raubvogel. „Stimmt das? Du angegriffen?“ Er nickt vorsichtig. „Mein Gott, und ich fluche rum und… ich hätte fragen sollen. Du wirkst ja wirklich schockiert.“ Er nickt wieder. „Ich mach erstmal nen Kaffee. Viola, Sie bleiben doch.“ Viola lächelt viel zu glücklich. Mutter grinst wie ein Dämon, der auf Kokain ist, ihre Augen umhüllen ein wirres Zucken.

Er kotzt im Badezimmer. Dafür sind Badezimmer da, nicht für tausende kleine Kitschproduktionen in roten Rosen, nicht für Kästchen neben Kästchen voller Schönheitsprodukte, die nur ein Mensch interessant findet, der auch glaubt, dass Tarotkarten die echte Zukunft voraussagen oder dass Aliens die Menschheit erschaffen haben. Magie in Dosenform nennt er es, doch das einzige, das magisch ist: Der Geldmagnet, der Mutters Kohle in die Geldbörsen der Erfinder zaubert. Dafür darf der Blumengeruch Nummer 5 die Reste seiner letzten Mahlzeit übertünchen und bastelt ein bezauberndes Aroma in die 4 Wände und das Fenster treibt Berlins Nachmittagsluft direkt in die Wohnung und, wie soll man sagen, es riecht nach Ubahn und das ist nicht gut. Im Hintergrund, durch das Schlüsselloch, kichern Mutter und Viola über einen Witz, zu 90% über den Witz „Achim pisst sich ein“. Wenn doch das Eso-Scheiß-Zeug von Mutter funktionieren würden, dann könnte er was basteln, was die Hölle zur Erde bringt, das Menschen in Mutanten verwandelt oder schlimmer, in Volksmusiksänger, denen die Ohren explodieren, ansteckende Melodien bohren sich in die Köpfe der Leute und eine wunderbar grauenhafte Hormonüberproduktion bringt sie zur Raserei… oder besser, wenn es wirklich wahr wäre, dass korrekte Worte, perfekt ausgesprochen, sich durch die Dimensionen bewegen würden, Dinge wecken, die seit unendlicher Zeit schlafen. Und dann so: Aaargh, nein, bitte nicht, Kreisch, Splat, Blutgeschnetzel vom allerfeinsten. Ja, das wäre mehr als man erhoffen kann…

Ach Shit, dass das nicht funktioniert. Weder Hexen noch Zauberer, weder Drachen noch Dämonen, weder Krieger, ach Fuck. Diese verdammte Welt aus Atomen und Molekülen hat keine Chance, irgendwas anderes zu sein als eine riesige Uhr, die abgespult wird, bis das eigene Leben zu Ende ist. Ende… ja. Die Welt wird ihn auslachen, tut es ja schon, sorry für das Ignorieren des Offenkundigen: Er ist am Arsch. Schlimmer noch, seine Mutter und Viola (was auch immer sie hier will, jede Woche 3 Mal hier und so weiter) wissen, dass er sich einpissen wird, wenn er Angst hat. Nein, er hatte keine Angst, es war was anderes. Irgendwas. Was wird nun passieren? Wird sich das Fernsehen auf ihn stürzen? Die üblichen Krachbumm-Sender, werden sie einen 3 oder 4 Minuten-Ausschnitt bringen, ihn vor aller Welt entblößen? Und dann? Einladungen beim Fernsehen, um als Idiot dazustehen?

Als er die Badtür öffnet, hört er die Stimmen der beiden Frauen. „Ich kanns nicht, ich kanns einfach nicht…“ hört er Mutter sagen, Viola fällt ihr ins Wort. „Doch. Nutzen Sie alle Möglichkeiten. Es ist einfach. Kennen Sie den Streisand-Effekt? Nutzen Sie den. Beschwerden über Leute, die andere auf der Straße filmen, Fernsehsender, die sie ausstrahlen. Und dann gibt’s noch mehr Aufmerksamkeit, es schaukelt sich hoch und sie sind dann die leuchtende Boje, die über allem strahlt, wie damals in ihrem Film „Die Schande der Tamara Linaer.“ Mutter schluchzt, als habe sie im Lotto gewonnen, „wirklich?“ „Ja natürlich. Die Medien sind dafür da, für was auch sonst…“ Viola ist aufgestanden und schenkt Kaffee nach, sieht Achim im Schatten stehen. Sie lächelt ihm zu, ihre Augen bleiben eisig und blau. „Achim ist hier.“ sagt sie. Mutter winkt ihn heran, eine Königin in ihrem Thronsaal gestattet ihm eine Audienz, keine Spur von Scheu oder dem Ertapptwerden in ihrem Gesicht, eine Opportunistin reinster Güte. „Du hast uns gehört.“ stellt sie fest. Er schüttelt den Kopf. „Lüg nicht, ich konnte schon immer sehen, wenn du die Unwahrheit sprichst. Du kannst das nutzen, dieses Youtube-Zeug, Achim. Wir können es nutzen. Möchtest du kein Geld haben? Möchtest du nicht unabhängig von mir werden?“ Sie kichert, winkt ab, blinzelt Viola zu. „Natürlich nicht. Du willst immer an mir hängen.“ Sie lächelt noch immer, als erinnere sie sich, dass sie eigentlich ein Hai ist und er nur irgendein Surfer im Meer ihrer abgedrehten Wirklichkeit.

Es muss mehr Klarheit rein, in die ganze Welt, mehr Klarheit und gleichzeitig eine sinnige Reihenfolge. Noch mehr Rum? Sicher bringt das nix, wenn man dann das Klo vollkotzt, aber vorher bringt das Schwimmen im Schwachsinn durchaus Vorteile. „Ich mach das nicht mit.“ sagt Achim, dreht sich um, bevor er seinen Kopf in die Küche halb zurückdreht. „Gnade euch Gott, wenn ihr irgendwas plant.“ Natürlich sagt er das nicht, vielleicht würden sie den Sinn dieser Worte überhaupt nicht verstehen. Sie sind zu intelligent, um ihn zu verstehen.

Es sind weniger Schritte, als er gedacht hat, ein paar Stufen hat er gleichzeitig genommen. Der Dachboden erinnert ihn an diesen alten Film, dieser Verfolgungsjagd eines Mörders, eines Schänders. Er fühlt nichts, als er die Tür öffnet. Der Flur liegt vor ihm, Holzplanken knarren verdächtig, Staub steigt auf, die Musik der Zuckerfee läuft im Hintergrund als Erinnerung an bessere Zeiten. Licht fällt auf ihn hinunter, als er das Fenster öffnet, sich hindurchquetscht, kein Fenster ist dazu geeignet, Menschen mit dreistelligem Körpergewicht einen Weg in den Himmel über Berlin zu Bahnen. Es ist kühl, die Versuche des Sommers waren bisher erfolglos, der Winter ist vergangen, der Mai scheint über die Redlichen und die Unredlichen. Er fühlt, wie seine Hände zittern, der Rest ist unklar, sein Blick verschwimmt. Tränen? Wozu? Glitschige Schindeln machen seinen Weg zu einem Drahtseilakt, den er… nun, sowieso nicht plant, zu vollenden.

„Mein Gott“ kreischt eine Frau in der Ferne und der Rest der Leute erstarrt zu einem Klumpen aus Fleisch und Augen. „Ich hoffe, die Scheiße landet im Internet“ hört er sich selbst murmeln, wartet, zählt die Herzschläge, 60-59-58-57… Er würde sich freuen, wenn hinter ihm Schritte auftauchen würden, ein Kopf sich aus dem Fenster quält, doch da ist niemand. Sie planen ihre Zukunft, die seine noch dazu. Er fühlt nicht, wie er loslässt. Seine Gedanken bleiben unklar, bis er die blitzenden Objektive der Handys sieht, die seinen Weg in die Hölle aufzeichnen und für diesen kurzen Augenblick ist er wirklich ein Star.

„Nein. So endet das nicht. Tu deine Pflicht.“ sagt eine Stimme, dann ein Lachen: Viola und Mutter, gemischt in einem alten Tonbandgerät, verschmolzen und doch getrennt, als würden die beiden Spuren sich abwechseln, in verschiedenen Wellen gegensätzlich laufen und dann doch treffen, in jedem seiner Ohren eine andere halbe Doppelperson; seine Hand am Türrahmen verankert, am Rahmen, am… Hintergrund festgepappt, unbeweglich, Farbe, die unter der ewigen Sonne dahintrocknet, hinter Glas gepresst, mikroskopartige Augen zerlegen ihn Partikel, zertrümmern sein Leben in Nanosekunden, in Phasen aus Versagen und Enttäuschung und dann lachen sie nicht mehr, sondern werfen ihn ins Feuer, weil sein Angesicht nicht mehr interessant genug ist.

„Gehts wieder?“ fragt Viola, die in seinem Zimmer steht, die SEINE Flasche Rum in beiden Händen hält, das Gesicht voller Mitgefühl, dann rülpst sie damenhaft und ihr Atem riecht wie ein Karibikstrand nachdem ein Wal explodiert ist, ein leiser Fluch kommt ihr über die Lippen, die Augen schweben zum Himmel, ein kurzes stummes Gebet, denn sie glaubt daran, dass superheilige Worte schneller beim alten Herrn da oben sind als jeder erdgebundene und damit profane Ausdruck menschlicher Verderbtheit. „Bist du der Teufel?“ fragt Achim. Ihre Stimme klirrt, als sie kichert. „Das wollte ich dich gerade fragen. Oh, wir sind so unterschiedlich und doch so gleich.“ Sie schwankt zu ihm hinüber, lässt die leere Flasche fallen wie ein Mikrofon, „bumm“ und setzt sich neben ihm auf das Bett. Ihre Hände wandern über seine Schultern, „Kleiner Teufel du“ Sie schaut zur Tür. „Deine Mama ist fort, jemand hat sie angerufen. Ein Freund. Vermutlich wird sie mit ihm das machen, was ich…“ Er schiebt sie weg, sie winkt mit dem Zeigefinger ein „Nein“ und kommt ihm wieder zu nahe. „Ich mag dich total sehr“ flüstert sie, „eigentlich habe ich dem Vater versprochen, dass ich auf die Hochzeitsnacht warte, aber… pscht“ sagt sie, ihre Augen wirken wie Scheinwerfer hinter ihrem roten Gesicht, „es gibt so Wege, dass ich mein Versprechen halte und gleichzeitig.“ Ihre Hand ist auf seinem Knie, Oberschenkel, Reißverschluss. Ja, es ist nicht das erste Mal, sagt er sich, dass sie es versucht, andere haben das auch getan, es versucht und wenigen ist es gelungen, aber er hat keinerlei echtes Interesse an dem, was sie will, was viele wollen würden, wenn er attraktiver wäre, mehr aus sich machen würde, aber das ist ihm nie wichtig gewesen. Die Mechanik ist einsatzbereit, aber das wars auch schon: Es fehlt die Notwendigkeit, sich einfach ins Auto zu setzen, die Musik anzuschmeißen und die Autobahn des Geschlechtsverkehrs in den Sonnenuntergang zu rasen, nein, außer man zwänge ihn dazu, eine Fahrt zu unternehmen… aber er ist dann der Wagen und Viola will heute fahren. Heute. An diesem Tag, an dem er sich vollgepinkelt hat vor den Augen aller Kreaturen des abwesenden Herrn.

„Mutter ist…“ sagt er. „Ich sagte doch, dass sie weg ist. Hast du etwa Angst?“ fragt Viola, blickt ihn an, als würde sie nicht begreifen, wieso er nicht über sie herfällt, ihr Gewalt antut, sie penetriert wie ein Tier. Liest sie nicht auch diese Art Romane mit großen Helden und bitterlichen Tränen, voller Taten aus niedrigsten und unmoralischen Gründen, voller Gier und Leid und dann doch die Errettung durch die Liebe der Frau? Hat sie nicht davon erzählt oder war das nur ein Traum, eine Erinnerung an ein früheres Leben? War das nicht jemand anderes, eine Lehrerin, die er auf einer Feier kennengelernt hatte, „Charlottenburg lebt auch noch“? Achims Magen nimmt einen bitteren Ton an und das Gefühl, nicht genug zu sein, nicht genug Mann zu sein, kommt wieder, eine Lusche, die in der Welt zu klein ist, um mehr zu bieten als einen Sack aus Fleisch voller ungehörter Schreie. Viola ist übrigens aufgestanden und zeigt ihren Körper, fest und sportlich, denn sie tanzt, wie sie oft erzählt hat, ihre Beine unter dem Rock haben mehr Muskeln als Achims ganzer Körper und er versteht nicht, wieso sie gerade ihn haben will, wo doch da draußen viele andere, viel bessere Männer alles tun würden, um sie und ihre Brüste zu sehen, die sie ihm nun darreicht als Opfer einer bizarren Gottheit gegenüber, dabei ist sie weder Hohepriesterin der Astarte noch eine Hure, sie ist jung und geil und NUR jung und geil.

Er versucht, die nächsten Minuten zu überstehen. Aus objektiven Gesichtspunkten ist sie schön, ihr Gesicht rund und entspannt, ihr Hintern (Arsch darf er nicht denken, darf er nicht sagen, ist unrein) hüpft auf ihm herum, sie hat alles dabei, um sich anschmiegsamer zu machen an sein „Teil“. Konzentration-Konzentration-Konzentration, bis er endlich, irgendwo in der Spitze seines Penis ein kurzes Zucken verspürt, flüssige Dankbarkeit, dass es vorbei ist, sie küsst seine Stirn und huscht davon, bevor sie im Badezimmer verschwindet. Er wirft die klebrigen Taschentücher in den Mülleimer, der Geruch wird ihn verfolgen, sehr lang verfolgen… und dann folgen Tränen. „Bist du glücklich?“ fragt ihre Stimme aus dem Badezimmer mit der offenen Tür: Intimität ist für Leute, die noch keinen Analverkehr hatten.

„Was ist das?“ fragt sie. Sie hat das Papier entdeckt, das in seiner Hose war, der angepissten, die er nicht in den Wäschekorb geschmissen hat, sondern daneben. Danke Unordnung. „Wie das?“ fragt er, „ich meine was?“ „Das bist doch du?“ Er macht das alte Caine-Lächeln, unbeholfen-demütig, „legs weg.“

„They say, I have to check the tiny things in life, the nice things, the little beautiful things. They say, I have to look at the cute little flower, to see the beauty of the sun, the clouds, the smiles… yeah, the flower. The fucking flower. I DO NOT WANT TO… check the flower, fucking flower for beauty. I want to fuck the flower. I want to fuck the life. I want more life! I dont want to fight for the particles of sunlight. I want the full life, the Michael Bay porn life. The life of flesh and of tits and of ass, I want the sweat and the full body explosion. I want to drink booze every fucking day, eat meat, laugh loud, roar myself into the hearts of the mighty ones, so they tremble before my godlike existence. I want everything and I want it now. I stop wanting the tiny things, because the universe is mine!“ Ihre Stimme bricht. „Deine Grammatik ist scheiße“ sagt sie, zittert, starrt ihn an, starrt durch ihn hindurch. „Du Schwein“ ergänzt sie, „du dreckiges Tier.“ Sie kommt über ihm wie eine Dämonin und sie weint, als es vorbei ist.

„Ich bin nun so unrein wie du.“ Sie richtet sich auf. „Lass uns deine Mutter töten.“ Er reagiert nicht, die Worte verhallen irgendwo in ihm. Nur ein Reflex lässt ihn zucken. „Töten?“ fragt er. Sie starrt ihn an. „Ja“ Ihr Blick ist der eines Hundebesitzers, der völlig enttäuscht ist, dass das Haustier wieder einmal in die Ecke hinter dem Sofa gekackt hat. Er starrt auf die Kante des Bettes, hinter dem der Teppich liegt, eine ausgeleierte Erinnerung an Kindertage, abgewetzt durch seine täglichen Märsche, hin und her und wieder zurück,während sie hinter der Tür lauerte, Mutter, ihr Fernseher auf den Modus „unendliche Lautstärke“ eingestellt, immer wieder die selben Szenen ihrer Filme abzuspielen, bis jedes Wort sogar in seinen Träumen auftauchte, als schattige Wolken, als Neonanzeigen, sogar als Worte in Büchern auf dem mitternächtlichen Flohmarkt. Ja, er hat es satt, ja, er ist mehr als unzufrieden, aber… „Deine Worte hier,“ sie hält den Zettel in Händen, „sagen doch eindeutig, dass du kein Leben hast! Sie hats dir gegeben und genommen. Ich kenne solche Leute. Ich habe eine Kollegin, die ist auch Lehrerin, die muss sich die ganze Scheiße anhören, wie blöd sie ist und wie klug ihre Kinder sind. Aber die Kinder haben gar keine Chance, irgendwas zu tun, was zu sagen. Diese Eltern verbrennen die Zukunft ihrer Nachkommen und du, Achim, gerade du müsstest wissen, dass für deine Mutter nur eine Person wichtig ist: Sie selbst. Glaubst du nicht auch, dass sie gerade unterwegs ist, um deinen Unfall… dein kleines Versagen… dazu nutzt, sich in den Vordergrund zu spielen? Fernsehen, Radio, Internet, alles steht ihr nun offen und du bist nur der Kasperle. Sei nicht so, Achim. Du bist keine Puppe. Du bist ein freier Mann!“ Sie nutzt Imperative wie ein General, prachtvoll emotionslos im Hintergrund. Achim möchte aufstehen und klatschen und eine Fahne schwenken, aber er hat keine Fahne, also räuspert er sich nur. „Das ist jetzt nicht die beste Idee…“ sagt er. „Ach“ antwortet sie, schnippisch mit einem Mal, „die beste Idee ist es auch nicht, sich über Jahrzehnte hinhalten zu lassen. Worauf wartest du? Was willst du im Leben?“ Sie ist anders, als habe der Sex sie in einen anderen Geist verpflanzt. Haha, verpflanzt, Lachbonuspunkt. „Das ist kurzfristig“ versucht er, die Wellen zu glätten, die über ihn hereinbrechen. Viola lächelt milde. „Natürlich. Es muss ja auch nicht jetzt sein. Jetzt kannst du dich ausruhen und das Fernsehen über dich kommen lassen, Reporter, Anrufe, Leute, die mit Fingern auf dich zeigen… ist es nicht schwierig, so gelassen zu bleiben?“ Sie steht auf und geht davon, zumindest wieder ins Bad. Frauen… Statt sich umzubringen, soll er also eher seine Mutter… nein. Nein. Das ist so falsch, damit könnte man… nein. Nein. Sein Kopf brüllt. Warum will sie seine Mutter umbringen? Sie liebt doch seine Mutter. Sie verehrt sie. 2 Jahre kennen sie sich fast. Seit Oster 2014. Und nun, als wäre der Schalter umgekippt worden. Nein, da muss mehr dahinterstecken als nur der Wunsch, dem Typen, der sie zur Frau gemacht hat, zu gefallen.

Während die Dusche läuft, stromert Achim durch sein Zimmer, hin und her fällt sein Blick, unstet ist auch seine Gedankenfolge, abgehackt, hilflos sich selbst ausgeliefert. Rum ist leer, das Zimmer eine Müllhalde, was ihm jetzt auffällt, etwas, was er immer ignoriert hat. Sie pfeift im Bad, zwischen den Regentropfen taumeln verquere Töne durch die Wohnung. Dann ist sie still und nur das Echo des Wassers, das durch die Rohre ins Badezimmer strömt, ist zu hören.

Er wartet, redet mit sich selbst, versucht zu denken. Nein, da ist nichts… nur… Leere. Er flucht.

„Hey“ sagt er laut genug, damit sie ihn hören könnte, fast schon brüllt er, doch sie antwortet nicht. Wieso beginnt es hier nun, zu riechen, als ob… nein… nein… Er geht zur Tür, öffnet sie, nicht möglich! Hat sie die Tür zugesperrt? Wie denn? Er hat doch den Schlüssel… nein, der fehlt. Er geht in die Knie, starrt durchs Schlüsselloch. Der Flur ist finster. Es riecht nun dumpfer, wie Metall, die dickes… nein! „Viola!!!“ brüllt er, hämmert gegen die Tür. Sie gibt nicht nach. Zurücktreten, die Schulter ins Holz… der Schlag ist mörderisch, hat aber keine Chance. Ein weiterer Versuch bringt nur einen baldigen blauen Fleck ein. Ein Nachbar über ihm beginnt lautstark auf den Boden zu treten, um darauf hinzuweisen, dass Achim zu laut ist. „Fick dich“ brüllt der Angesprochene, ein weiterer Versuch, dann wird er was mit dem Fenster versuchen. In der Küche springt der 20 Jahre alte Kühlschrank an.

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