Berlin – Studium eines Schattenwesens in der S-Bahn

Berlin – Studium eines Schattenwesens in der S-Bahn

Berlin

Die Sbahn

unendliche Weiten

wir schreiben… 2011.

Die Umgehung meiner Ubahn dank gewisser baulicher Betätigungen bis November hin zwingt mich förmlich in Richtung S-Bahn, von der ich mir, nebst schneller Bewegung auch einen freien Blick in die schönen Häuserschluchten von Berlin erhoffe.

Wenn die Leute nicht sind, die mich begaffen…

Begaffen… eine Angewohnheit älterer Herrschaften (aus Neid, weil ich noch jung bin)… von Jungen (weil ich schon so vergreist bin), also bin ich es gewohnt und muss nicht mehr laut Gustav Mahler (Mr. Heavy Metal in Person) hören, um hip zu sein. Unabhängig davon starre ich unverblümt in die Richtung eines Pärchens, das mir den Blick hinaus ablenkt, wie ein schwarzes Loch im Weltraum. Schwarz, eine passende Farbe für die beiden jungen Menschen.

Er

starrt in die Luft. Sein Gesicht in bodenlose Agonie versunken, an der melancholischen Brust des Metaversums, also des unendlichen Nichts liegend, träumend, hoffnungslos. Er zittert leicht. Der Mund zusammengepresst wie eines seiner Augen, hinter Brillenglas. Apathisch. Das Basecap modisch zur Seite gewandt + eine schwarzgefärbte Ponylocke bis unter die Nase = ein Gemälde von Picasso. Das Shirt einer mir bekannten Band, die jedoch zu uncool ist, um sie zu posten, zu “hip” sagen wir es so, ragt hinab, geht nahtlos in offene Lackstiefel über, gelöchert, lose leuchtendrote Schnürsenkel ohne Sinn und Zweck.

Er ist allein und einsam und die Welt ist grundsätzlich schlecht, dass er so allein und einsam ist, doch

Moment einmal.

Sehe ich nicht neben ihm eine junge Frau, in emotionalem nachtfarbenen Chic gekleidet mit graugefärbtem Schläfenhaar, die lächelt und mit ihm redet?

Nicht in seinem Universum.

Auch wenn Sie seine Hand nimmt.

Sein Gesicht, eine Maske. 5000 Jahre alt.

Sie redet ihm gut zu. Er erinnert mich an eine mentale Mumie.

Da ein Kuss. Ich schaue kurz weg, folge meiner eigenen Höflichkeit und den Knigge, der stehts dabei ist.

Eine seiner Augenbrauen hebt sich kurz. Sein Gesicht erwacht. Er lächelt, versucht es jedenfalls. Jahrtausendelange Agonie hat das Gesicht in eine Statue aus purem Weltschmerz verwandelt. Doch nun bröckelt Sand. Hoffnung strahlt auf im Gesicht seiner jungen Begleiterin.

Dann, als hätte ein Blitz aus dunkler Materie ihn getroffen, versinkt er, gerade ans Licht geholt, erneut in die endlose Nacht.

Und dann steige ich aus. Und ich sehe eine Regenwolke über dem Wagon schweben und filigrane Düster-Wesen aus anderen Dimensionen kreisen wie von einem ewigen Strudel gehalten genau über seinem Platz, der anscheinend das Tor zwischen den Welten ist.

Ich bin zu alt für diese Dimensionstore, sage ich leise und lausche den bewegenden Klängen der Sinfonie Nr. 5 von Mr. Heavy Metal Gustav Mahler und träume von küstenlosen Meeren, während ich hinabschleiche, in die Stadt, die mich leise ruft.

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