Berlin(?): Stillstand

Berlin(?): Stillstand

Es mag wohl angehen, dass meiner Großmutter Spruch „Voller Bauch studiert nicht gern“ richtig war. Tatsächlich fällt es mir schwer, klare Gedanken zu fassen, was vielleicht dennoch eher an dem Schock oder der Müdigkeit liegt, die sich beide über meinen Verstand eingefunden haben, schwebend, lauernd.

Ich bemerke, wie ich ruckartig aufschrecke und aus dem Fenster starre, in die Dunkelheit. Das Lächerliche meiner Handlung wird mir bewusst, wenn mir einfällt, wo ich mich befinde.

Ob es Realität oder Alptraum ist, mag die Zukunft entscheiden. Vielleicht war es nur das Intermezzo, vielleicht Vorhersage.

Vor vielleicht 2 Stunden saß ich noch in der U-Bahn, die sich von Station zu Station weiter lichtete. Ich hörte leise Musik, den Kopf in mein Buch gesteckt und wartete indirekt auf die Station, wo ich aussteigen durfte. Denn ich war hungrig. Es war kein direkter Hunger, eher ein schleichendes Etwas, das sich geheimnisvoll um den Magen legte und andeutete: Iss.

Ich nahm die Hörer aus dem Ohr, als ich, neugierig wie ich bin, aufblickte und ein Kind weinen sah. Es war kein lautes, kreischendes Weinen, eher ein Schluchzen, ein Wimmern, kaum merkbar. Die Mutter hatte sich hinter ihrer Musik und einem Handy versteckt, während das Mädchen im Wagen hin und her zuckte und mit seinen Ärmchen ausschlug.

Es deutete nach draußen und ich gestehe, ich war überrascht. Der Wagen stand. Licht fiel nach draußen und beleuchtete eine Wand, vermutlich einen Meter von der Bahn entfernt, alt und grau, einmal in den Jahrzehnten bemalt und dann, wozu auch, nie wieder angerührt. Risse zogen sich wie schwarze filigrane Wurzeln über die Oberfläche, zeichneten ein verwirrende Puzzle.

„Hörst du auf!“ sagte die Frau, scharf und laut und zeigte, den einen Kopfhörer noch im Ohr, auf das Kind. „Hörst du auf, sonst wirft dich der Fahrer raus und du bist hier…. ganz allein.“ „Ja, sicher“, dachte ich mir, erinnerte mich lebhaft an die Drohungen meiner Kindheit. Ich schüttelte den Kopf.

„Was für eine Mutter“, meldete sich neben mir eine Stimme. Sie stammte von einer alten Frau, zusammengefallen, die Haut einer Ziehharmonika gleich. Sie biss in einen Apfel und kaute lautstark. Ich musste mich beherrschen, nicht loszulachen.

„Ich bin nicht ihre Mutter! Ich bin ihre Schwester und das geht Sie überhaupt nichts an!“ polterte die Angesprochene los. Bevor der Streit eskalieren konnte, meldeten sich die Lautsprecher. Verspätung etc. Mein Hunger nervte mich. Die Tür schwang auf und der U-Bahn-Fahrer, bullig wie ein Stehaufmännchen und mit dessen Gesichtsausdruck erschien. Seine ganze Art sprach nicht von Friede, Freude und Eierkuchen. Er fluchte leise und stampfte nach hinten. Irgendwo im Hintergrund leuchtete eine rote Lampe. „Türschaden“ meinte die alte Frau. Ich nickte. Hatte ich doch fast dasselbe bereits vor wenigen Tagen erlebt.

Dann ging das ganze Licht aus. Im Hintergrund hörte ich den Fahrer fluchen. Stromausfall. Das Wimmern wurde immer lauter, fast aggressiv Ich gestehen, dass ich mich nicht traute, weiter Musik zu hören. Dafür starrte ich in die Dunkelheit. Einige Lichtkleckse, Handy-Spiegelungen, tauchten auf und verschwanden wieder.

Im Hinteren Teil des ewig langen Wagons tanzte der Fahrer förmlich, um sich nicht zu verletzen, oder er hatte einfach Angst, einen Fußtritt abzubekommen. Eine Ansage aus dem Fahrerhaus: „Vorsicht, die elektronischen Türen sind nicht korrekt verriegelt. Ich wiederhole. Bitte prüfen Sie diese und machen Sie Meldung.

Rote Punkte in der Dunkelheit. Sie bewegten sich schnell, verschwanden und tauchten an anderer Stelle wieder neu auf. Das Kind geriet in Panik. Die Schwester hob die Kleine hoch und wollte sie schon anschreien, als der Fahrer etwas bemerkte und augenscheinlich den Kopf verlor. Ich hörte ein „Oh mein Gott.“ und den Versuch, die hintere Tür mechanisch zu schließen. Immer mehr rote Punkte, winzigen Flammen gleich, belebten die Finsternis und dann begann das Knacken und Kratzen, als trommelte Regen auf das Fenster in der Nacht, tobe der Sturm über die dürren Äste in einer Gewitternacht. Mir wurde klamm ums Herz. Ich hatte vermutlich, nein eindeutig zu viele schlechte Horrorfilme gesehen. Denn mehr und mehr erkannte ich Silhouetten, Körper, die ihre dürren Arme und Finger gleich Ertrinkende an die Fenster hoben und um Einlass baten, nein, Einlass verlangten.

Ich rieb mir die Augen. Ich fühlte mich wie in einem der schlechteren Zombiefilme gefangen, ohne dafür ausgerüstet zu sein. Dann tobte der Sturm los. Hagelkörnern gleich schossen Fäuste durch die Finsternis. Der Fahrer lief in einem Tempo vorbei, als wäre die Hölle hinter ihm her. Mit einem dumpfen Knall landete er im Fahrersitz. „Herrlich“, dachte ich mir, „noch einer, der auf theatralische Effekte steht.“ Dann ging das Licht an. Von einem gigantischen Blitz illuminiert, brannten sich die belebten Schatten in meinen Kopf. Denn ich sah nicht nur abgemagerte Männer in sackartige Kleidung gehüllt, den Kopf in unförmige Mützen gepresst und ihre langen und kalten Finger ausgestreckt um die Wärme dieses Wagons aufzunehmen, nein… hinter ihnen standen, Tränen in den blutunterlaufenen, roten Augen, die albinohaften Gesichter in Schmerz abgewendet, Frauen und Kinder. Ja, Kinder, die vermutlich nie Sonnenlicht gesehen hatten. Eines davon, den Blick voller Gier und Hunger deutete auf aus und bleckte die Zähne, doch eine hagere, filigran wirkende Frau mit tiefschwarz gefärbten Augenrändern schüttelte den Kopf. Dann heulte der Motor auf, die U-Bahn setzte sich in Gang und auch wenn die Hände von der glatten Außenwand des Wagons rutschten, das Hämmern erstarb erst wirklich, als wir bei der nächsten Station ankamen.

Ich hörte, noch ganz perplex von der ganzen Situation, die Frau neben mir flüstern. Ich schaute sie an und sie verstand.

„Doch jene haben sich Gott verleugnet, haben das Licht abgelehnt und sind in die Dunkelheit geflohen. Und in diesen finsteren Gruben verharren sie, ja, die Sonne scheint ihr einziger Feind zu sein, denn auch wenn sie uns Glücklichen als Verdammte gelten, so verfügen sie doch über Mächte, nach denen wir nicht zu träumen wagen. Für uns mag die Nacht Fluch und Angst bringen, ihnen aber bringt sie die Ewigkeit.“

Ich lächelte über diese Theatralik und schwieg. Und nun sitze ich hier, in meiner warmen und hellen Wohnung und starre nach draußen. Eine Frage beschäftigt mich, mehr als alles andere.

„Was tun sie, wenn wir schlafen?“

© Emanuel Mayer 28.01.2011

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